Auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung?
Europäische Versuche und amerikanische Antworten
von Otfried Nassauer
1. Zur Einführung
"Gibt es noch den Westen?" - so lautet eine der Fragen, die immer häufiger
gestellt wird. Sie ist in Mode gekommen. Im Herbst 2003 präsentierten
beispielsweise Thomas L. Friedman, der bekannte Kolumnist der New York
Times, und der ehemalige Leiter der UNO-Inspektionen im Irak, Hans Blix,
fast zeitgleich eine neue Variante dieser Frage: Entwickeln sich Europa
und die USA unaufhaltsam auseinander, weil für Europa 1
nunmehr der 9.11.1989, das Ende des Kalten Krieges, das Identität
stiftende Bezugsdatum ist, während für die USA 9/11, der 11.September
2001, der Tag der Terroranschläge in New York und Washington, diese
Funktion hat?
Die
Gegenfrage: Gab es jemals "den Westen"? Gab es
jemals eine westliche Gemeinschaft mit gleichen Werten, identischen
Interessen und mit einer wirklich gemeinsamen ideologischen und
kulturellen Basis? Gingen die realen Gemeinsamkeiten des Westens
tatsächlich so weit über die faktisch aus dem Antagonismus
der Systemkonkurrenz wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer
Natur zwischen Ost und West resultierenden Grundgemeinsamkeiten
hinaus, dass man von identischen Interessen hätte sprechen
können?
Schon die Betrachtung
sicherheitspolitischer Aspekte - also jenes Bereichs, in dem
aufgrund einer gemeinsam definierten Hauptbedrohung eigentlich mit
der größten Übereinstimmung zu rechnen wäre -
spricht eher dafür, dass es damals wie auch heute wesentliche
Unterschiede gab. Damals wie heute waren es vor allem Unterschiede in
der Bedrohungsperzeption, die eine wesentliche Ursache
transatlantischer, sicherheitspolitischer Differenzen darstellten.
Während des Kalten Krieges hieß es beispielsweise: Ein
Nuklearkrieg zwischen Ost und West setzt möglicherweise alle
NATO-Staaten einer absoluten Existenzgefährdung aus. Zugleich
aber gab es immer wieder Diskussionen über die Möglichkeit
eines auf Europa begrenzten Atomkrieges, über An- und Abkopplung
und damit deutliche Anzeichen dafür, dass es diesseits und
jenseits des Atlantiks Unterschiede in der Bedrohungswahrnehmung gab.
Ein Nuklearkrieg hätte nur möglicherweise aber eben nicht
zwingend alle NATO-Staaten in ihrer staatlichen Existenz gefährdet.
Unterschiedliche sicherheitspolitische Interessen waren die Folge:
Westeuropa - wie übrigens auch Mitteleuropa als Teil der
Warschauer Vertragsorganisation - war daran interessiert, dass
die USA und die Sowjetunion eine nukleare Konfrontation nicht auf
Europa begrenzen konnten. Für beide Supermächte hingegen
wäre eine vorläufige Verschonung der eigenen Territorien
auf Gegenseitigkeit durchaus eine bedenkenswerte Option gewesen.
Tausende Seiten sicherheitspolitischer Fachliteratur widmeten sich
allein dieser Diskussion.
Die Lage nach dem Ende des Kalten
Krieges: Das Gefühl einer akuten, grundsätzlichen Bedrohung
der staatlichen Existenz existiert in West- oder Mitteleuropa nicht
mehr. Für die USA dagegen hat der 11.9.2001 eine neue Erfahrung
impliziert. Das Ende des Traums von der Unverwundbarkeit Amerikas ist
eingeläutet. Terrorismus und die Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen werden in den USA als Bedrohungen
betrachtet, von manchen sogar als existenzgefährdende Bedrohung,
zu deren Eliminierung jedes Mittel recht ist, sogar der Bruch
bestehenden Völkerrechts oder substantielle Verletzungen der
individuellen Menschenrechte. Anders in Europa: Hierzulande werden
Terrorismus und Proliferation zwar auch als bedeutende Risiken
eingeschätzt - nicht jedoch als einem Nuklearkrieg
vergleichbare, existentielle Bedrohungen. Man kann sie eindämmen
und reduzieren, aber eliminieren kann man sie nicht - so die
Einschätzung der meisten europäischen Fachleute und
Politiker. Sie sind mit jenen Risiken vergleichbar, die jede
hochentwickelte Industriegesellschaft zur Risikogesellschaft machen.
So, wie man viel für die Sicherheit eines Atomkraftwerks tun,
sich letztlich aber nicht 100prozentig gegen einen GAU absichern
kann, so kann eine infrastrukturell verletzliche,
hochindustrialisierte Gesellschaft nicht mit letzter Sicherheit gegen
einen Terroranschlag geschützt werden. Es bleibt ein Restrisiko.
Was während des Kalten Krieges galt, gilt somit auch weiterhin:
Westeuropa und die USA haben sicherheitspolitisch überwiegend
ähnliche, aber nicht identische Interessen.
Es gab und gibt so wenig "den
Westen" wie es "den Kapitalismus" oder die "freie
Marktwirtschaft" gab und gibt. Wenn es sprachlich nicht so
unschön klänge - korrekter wäre es, davon zu
sprechen, dass es "die Westen" gibt, "die
Kapitalismen" und "die (freien) Marktwirtschaften".
Systemkonkurrenz findet auch heute statt - ohne als solche
bezeichnet zu werden - zwischen verschiedenen Formen der
Marktwirtschaft, verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus.
Dieser Beitrag diskutiert die
künftigen sicherheitspolitischen Optionen Europas angesichts
veränderter Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Krieges.
Er fragt, welchen Veränderungen und veränderten
Anforderungen sich die Sicherheitspolitik der Zukunft stellen muss,
wie der Wandel in der Sicherheitspolitik Washingtons zu bewerten ist,
ob Europa diesen Wandel nachvollziehen kann oder sollte, ob es eine
eigenständige militärische Sicherheitspolitik betreiben
sollte, und wie die bisherigen Bemühungen um eine Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihren Stärken und
Schwächen einzuschätzen sind? Schließlich wirft er
die Frage auf, ob es Alternativen zu dem bisher eingeschlagenen Weg
der Europäischen Union gibt und ob mit ihnen adäquater auf
die veränderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen reagiert
werden könnte.
2. Neue Rahmenbedingungen
Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien
gegen einen klassischen, staatlich geführten militärischen Angriff
von außen sind in Europa und für die USA auf absehbare Zukunft unwahrscheinlich.
Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht angesichts ihrer weit überlegenen
militärischen Fähigkeiten ein solcher Angriff durch einen Staat oder
eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend sein könnte.2
Frühere potentielle, potente Gegner wie Russland haben heute ein wohlverstanden
genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Kooperation, da sie von Kooperation
- z.B. im Energiesektor - lebenswichtig profitieren, unter Konkurrenzbedingungen
aber viel zu verlieren hätten. Mithin konzentriert sich die Debatte über
die Zukunftsaufgaben von Militär und Sicherheitspolitik in Deutschland,
Europa und der NATO zunehmend auf verbleibende sicherheitspolitische Risiken
anderer Art.
Drei Risikokategorien und
den möglichen Kombinationen aus ihnen wird dabei immer wieder
besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind
erstens Risiken, die
sich im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der teilweisen bzw.
vollständigen Aneignung von Funktionen des staatlichen
Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure ergeben;
zweitens Risiken, die
sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational tätiger,
bewaffneter Akteure, wie z.B. Terroristen, religiöser
Extremisten oder auch transnationaler Konzerne ergeben können;
drittens Risiken, die
aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche
oder nicht-staatliche Akteure erwachsen könnten, da diesen
Waffen ein extraordinäres Schadenspotential inhärent ist.
Hinsichtlich aller drei
Risikokategorien wird von asymmetrischen Risiken gesprochen, da sie
keine klassische Kriegsherausforderung, wohl aber probate Formen der
gewaltförmigen Auseinandersetzung zwischen höchst ungleich
gerüsteten Gegnern darstellen können. Aus Sicht der
potentiellen Opponenten: David sucht seine Chance gegen Goliath.
Für all diese
Risiken gilt, dass
kein Staat alleine, auf
nationalem Wege und mit nationalen Mitteln, Sicherheit gegen diese
Risiken gewährleisten kann;
militärische Mittel
nicht und schon gar nicht alleine in der Lage sind, diese Risiken
auszuschalten;
die bestmögliche
Sicherheit in multilateraler Kooperation und mittels eines
ressortübergreifenden Ansatzes, einer Sicherheitspolitik aus
einem Guss, erzielt werden kann;
hundertprozentige
Sicherheit weder möglich noch - wegen der die Demokratie
gefährdenden, innenpolitisch-autoritären Nebeneffekte -
erstrebenswert ist und
diesen Risiken nicht
ausschließlich mit Maßnahmen innerhalb eines einzelnen
nationalen Territoriums begegnet werden kann.
Diese
sicherheitspolitische Risiken werden in den USA und in Europa
hinsichtlich ihres Potentials, eine "akute" Bedrohung
darzustellen, allerdings unterschiedlich bewertet. Jenseits des
Atlantiks geschieht dies unter dem Vorzeichen bzw. auf dem
Hintergrund der Folie der Abwehr gegen den Verlust des Traumes von
der Unverwundbarkeit in Form einer Worst-Case-Analyse, die primär
militärisches Handeln - ob reaktiv oder präventiv -
erfordert. In Europa dagegen steht eher die Reminiszenz an die gegen
Ende des Kalten Krieges geführte Debatte über die
Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften als
Risikogesellschaft Pate. Deswegen wird das in den USA oft als akute
Bedrohung eingeschätzte Risikopotential in Europa meist als
nicht völlig ausschaltbares Restrisiko betrachtet, dem man
besser mit polizeilichen und anderen nicht-militärischen
Präventiv-Maßnahmen vorbeugt.
Die Diskussionen in
Europa machen darüber hinaus deutlich, dass auf weitere Risiken
zu achten ist, die in der US-amerikanischen Debatte deutlich weniger
Beachtung finden. Dies sind u.a. Risiken, die sich aus dem globalen
Klimawandel (und damit auch aus der Energiepolitik), aus der
organisierten Kriminalität, aus Ressourcenkonflikten, z.B. um
Trinkwasser oder künftigen Migrationsströmen ergeben
könnten.
3. Außen- und Sicherheitspolitik unter George W. Bush
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Administration
von US-Präsident George W. Bush 3
wird bislang von Neokonservativen dominiert, die argumentieren, dass die
USA sich ihrer Rolle als alleinige Supermacht erst noch bewusst werden und
daraus die Konsequenzen ziehen müssen. Es gelte, die Weltordnung so
neu zu gestalten, dass diese die Aufrechterhaltung der alleinigen amerikanischen
Führung erleichtere und die Herausbildung regionaler Konkurrenten erschwere.
Eine deutliche Flexibilisierung der amerikanischen machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten
sei vonnöten. Ein verstärkter Rückgriff auf naturrechtliche
Vorstellungen, das Recht des Stärkeren, sei angemessen, weil das Verhältnis
der Staaten untereinander anarchisch sei. Nicht Legalität und Recht,
sondern Legitimität und Rechtfertigbarkeit rücken in den Vordergrund
der Begründung konkreter politischer Schritte. Flexiblere Optionen
zur Ausübung von Macht werden durch eine Politik der aktiven Deregulierung
der internationalen Beziehungen erreicht. Diese nimmt verschiedene Formen
an:
-
Sie drückt sich in einer Entrechtlichung der internationalen Beziehungen
aus. Rechtliche Regeln, die die eigene Handlungsfreiheit einschränken,
werden beseitigt (ABM-Vertrag) oder gar nicht erst eingegangen (Internationaler
Strafgerichtshof). Praktiziert wird ein Multilateralismus a la carté:
Nur Vereinbarungen, die - wie der nukleare Nichtverbreitungsvertrag - dem
nationalen Interesse dienlich sind, bleiben erhalten.
-
Mit der Entrechtlichung einher geht eine Politik der Renationalisierung
von Entscheidungsbefugnissen und Rechtssetzungsansprüchen. Die
Bush-Administration verlagert zentrale politische Entscheidungsbefugnisse
von internationalen Institutionen zur nationalen Regierung. So wurde die
Entscheidung über den Irak-Krieg von New York nach Washington umgezogen.
-
Die Deregulierung zeigt sich damit auch in einer Devaluierung internationaler
Organisationen, die bisher die Aufgabe hatten, multilateral kollektive
Entscheidungsprozesse zu organisieren. Sie werden vor die Wahl gestellt,
"freiwillig" zu Erfüllungsgehilfen nationaler Entscheidungen der USA
zu werden oder nur noch als potentielle Konsultationsgremien zu dienen bzw.
ins Abseits geschoben zu werden. Sowohl die NATO als auch die Vereinten
Nationen sind von dieser Tendenz betroffen.
-
In der Bündnispolitik wird ebenfalls Multilateralismus a la
carté praktiziert - als "Coalition of the Willing". Nicht Strukturen,
die wie die NATO als Orte gemeinsamer Entscheidungsfindung konzipiert sind,
dienen als vorrangiges Instrument multilateraler Kooperation, sondern ad-hoc-Koalitionen,
die sich entlang der Vorgaben Washingtons ergeben bzw. als möglich
erweisen. Donald Rumsfeld’s Diktum von der Aufgabe (mission), die
die Koalition definiere, statt dass die Koalition über die Mission
entscheide, beschreibt dies gut.
-
Die Bush-Administration verfolgt eine Ausweitung der als legitim erachteten
Interventionsgründe für militärische Einsätze
auf dem Territorium souveräner Nationalstaaten. Neben die "humanitäre
Intervention" treten die Bekämpfung des Terrorismus und
der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche wie an
nichtstaatliche Akteure. Das amerikanische Rechtsverständnis
ist präzedenzfallorientiert. War Kosovo der Präzedenzfall
für eine humanitäre Intervention, so ist Afghanistan jener
für die Bekämpfung des Terrorismus und der Irak sollte es
für die Bekämpfung der Proliferation werden. 4
Auf Präzedenzfälle kann man sich berufen, wenn es gilt,
künftige Interventionen als legitim darzustellen.
-
Schließlich werden die Umstände, unter denen legitimerweise
Krieg geführt werden darf, erweitert: Prävention und Präemption
mit militärischen Mitteln wurden in den Kanon legitimer Handlungsmöglichkeiten
aufgenommen. Dieser Schritt findet seine Analogie in einer Politik, die
sich abzeichnende geopolitische Veränderungen oder Krisen nicht abwartet
und darauf reagiert, sondern unter dem Vorzeichen, Weltordnung neu zu gestalten,
selbst einleitet.
Die Deregulierung der internationalen Beziehungen ist kein Selbstzweck, sondern
Schritt und Phase auf dem Weg zu einer den neuen Risiken und Gefährdungen
angepassten internationalen Ordnung unter dauerhafter Führung der
USA. Richard N. Haass, ehemals Planungsdirektor im US-Außenministerium,
sprach davon, eine "Doktrin der Grenzen nationaler Souveränität"
zu entwickeln, also ein Set von Werten, an das sich Regierungen halten
müssen, wenn sie vor Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft
oder der USA sicher sein wollen. Regierungen müssen Werte wie Demokratie,
Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, Nichtunterstützung von Terrorismus
oder Proliferation gewährleisten. 5
Tun oder können sie das nicht, so darf und muss ein Regierungswechsel,
"Regime Change", erzwungen werden können. Die vorhandenen
internationalen Organisationen müssen entweder zu nützlichen
Instrumenten bei der Implementierung dieser neuen Weltordnung umgestaltet
werden oder aber - wenn sie sich dazu unfähig bzw. unwillig zeigen
- durch neue, unter Führung Washingtons zu gründende Institutionen
in ihrer legitimierenden wie unterstützenden Funktion abgelöst
werden. Ähnliches gilt für das internationale Recht. Es muss
angepasst werden oder es verliert seine Bindungskraft.
Ob - wie es sich in den
Vorstellungen von Richard Haass andeutete - auf die Phase der
Deregulierung der internationalen Beziehungen auch wirklich eine
Phase der Rekonstruktion folgen wird, lässt sich heute noch
nicht abschließend beurteilen. Begründete Zweifel aber
sind möglich. Zum einen, weil Glaubwürdigkeit und
Konsistenz für die Wertebasierung einer neuen Weltordnung
unabdingbare Voraussetzungen sind. Beides steht in Frage, seit die
partiell parallele Eskalation der Konflikte um die
Massenvernichtungswaffen Nordkoreas und des Iraks Washington vor die
Frage "Viele Kriege oder viele Standards?" stellte und
die Regierung George W. Bush sich für eine Politik
unterschiedlicher Standards entschied. Die Irak-Politik der
Administration hat ein Übriges dazu beigetragen, um die
Voraussetzungen der Glaubwürdigkeit und Konsistenz als fraglich
erscheinen zu lassen. Im Blick auf die Terrorismusbekämpfung
gilt ähnliches.
Es darf darüber hinaus bezweifelt
werden, ob die USA über die wirtschaftlichen und militärischen
Ressourcen verfügen, um die angedachte neue Ordnung im
Alleingang und wo immer nötig militärisch durchzusetzen -
das Phänomen der Gefahr der imperialen Überdehnung.
Würde
dagegen nur eine Deregulierung der internationalen Beziehungen
vollzogen, der Aufbau einer neuen Weltordnung auf veränderter
Wertebasis aber scheitern, so wäre ein deutliches Weniger an
Stabilität und ein deutliches Mehr an zwischenstaatlicher
Anarchie die wahrscheinliche Folge. Als Kolalateralschaden kann
eintreten, was vorgeblich verhindert und bekämpft werden soll -
ein Mehr an Terror und Proliferation. Zumindest ersteres deutet sich
ansatzweise im Irak bereits an. Zweiteres ist schwerer abzuschätzen,
kann aber nicht ausgeschlossen werden.6
Dies hätte für Washington schwerwiegende Folgen -
mehr aber noch für ein Europa, das noch kein einheitlicher
politischer Akteur ist, der immer schnell genug agieren könnte.
Es bleibt abzuwarten, ob Washington eine solche Entwicklungsoption
als ein Ziel seiner Politik zu erkennen gibt bzw. sie als Mittel
einsetzt, um dem Entstehen eines regionalen, europäischen
Konkurrenten vorzubeugen.
4. Europäische Antwortversuche - Ein kurzer Rückblick
Die Europäische Union bemüht sich, auf die neuen sicherheitspolitischen
Fragestellungen im Rahmen der Weiterentwicklung der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) erste gemeinsame Antworten
zu finden. Der Europäische Rat in Thessaloniki billigte am 19. Juni
2003 erstmals Grundzüge einer sicherheitspolitischen Strategie für
die Staaten der Europäischen Union (EU).7
Diese wurden wenig - aber entscheidend - verändert anlässlich
des nächsten Gipfeltreffens der EU während des Europäischen
Rates in Brüssel am 12. Dezember 2003 endgültig verabschiedet.8
Das Dokument ist Ausdruck der Tatsache, dass die sicherheitspolitische
Diskussion in Europa weiter in Bewegung bleibt. Die Stoßrichtung
verdeutlicht ein Zitat aus dem von Javier Solana verantworteten Papier
mit dem Titel ‚Ein sicheres Europa in einer besseren Welt’:
"Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern,
die ein Viertel des Bruttosozialproduktes weltweit erwirtschaften, ist
die Europäische Union, der zudem ein umfangreiches Instrumentarium
zur Verfügung steht, zwangsläufig ein globaler Akteur. (...)
Europa muss daher bereits sein, Verantwortung für die globale Sicherheit
und für eine bessere Welt zu tragen." 9
Deutlich wird, dass nichts Geringeres als eine Bestimmung der sicherheitspolitischen
Rolle Europas Gegenstand der Debatte ist. 10
Im Kern geht es um Europa als global wirkenden sicherheitspolitischen Akteur.
Erneut ausgelöst wurde diese Debatte zum einen durch die Nachwirkungen
der Terroranschläge vom 11. September 2001. Andererseits aber und viel
nachhaltiger wirkt die Neuformulierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik
unter George W. Bush. Bush setzte nach acht Jahren demokratischer Präsidentschaft
wieder dort an, wo sein Vorgänger und Vater, George H.W. Bush, 1992 gezwungenermaßen
aufhören musste - bei der Ausgestaltung einer neuen Weltordnung für
die Zeit nach der Bipolarität des Kalten Krieges, einer Weltordnung unter
Führung Washingtons als einzig verbliebener Supermacht mit im nationalen
Interesse distanziert-skeptischer, wenn nicht sogar ablehnender Haltung gegenüber
der sicherheitspolitischen Integration Europas. Verkörpert
wird diese inhaltliche Kontinuität durch den damaligen Verteidigungsminister
und heutigen Vizepräsidenten Dick Cheney.11
Die neue, alte Haltung Washingtons veranlasste die EU-Staaten angesichts der
mittlerweile erreichten Teilintegration der europäischen Sicherheitspolitiken
zu einer Standortbestimmung trotz für die nahe und mittlere Zukunft absehbar
erschwerter Rahmenbedingungen.12
Deren Ergebnis findet sich in Solanas Sicherheitsstrategie.
Europa
wendete sich - rückblickend betrachtet - der Debatte über
eine Anpassung der Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges und
der Frage nach seiner eigenen sicherheitspolitischen und
militärischen Rolle außerhalb Europas nur schrittweise und
vergleichsweise langsam zu. Frankreich unternahm zunächst mit
der Reaktivierung der WEU und der Initiative zu den "Petersberger
Aufgaben" von 1992 einen Versuch, Europa mit
friedensunterstützenden, militärischen Maßnahmen zur
Unterstützung der UNO und der OSZE ein eigenständiges
Handlungsfeld und Profil zu erschließen. Dieser Versuch wurde
jedoch durch die Öffnung der NATO für das gleiche
Aufgabenfeld und durch technische Abkommen zur Anbindung der WEU und
des Eurokorps an die NATO binnen weniger Jahre wieder eingehegt.13
Fortan galt, dass sich die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungsidentität innerhalb der NATO herausbilden solle.
Erst
die Erweiterung der sicherheitspolitischen Befugnisse der EU durch
den demnächst in Kraft tretenden Amsterdamer Vertrag und die in
diesem Kontext initiierte Idee einer gemeinsamen Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die letztlich in einer
Europäischen Verteidigungspolitik münden soll, bot Ende
1998 wieder Anlass, über Europa als potentiell eigenständigen,
sicherheitspolitischen Akteur erneut nachzudenken.14
Parallel zur Eskalation der Kosovo-Krise zum Krieg entwickelte die EU
auf intergouvernementaler Ebene Grundlagen eines Konzeptes für
ein autonomes europäisches Krisenmanagement im Rahmen der
Petersberg-Aufgaben. Diese wurden erstmals während des
informellen Treffens der EU-Außenminister in Reinhardtshausen
unmittelbar vor Beginn des Krieges gebilligt und fanden nach
intensiver Diskussion im Kern überraschenderweise Eingang in das
Abschlusskommunique des Washingtoner NATO-Gipfels im April 1999.15
Während der Sitzung des Europäischen Rates in Köln
wurden sie im Juni 1999 endgültig verabschiedet. Sechs Monate
später fielen in Helsinki erste Beschlüsse, dieses Konzept
durch entsprechende militärische und wenig später auch
durch nicht-militärische Fähigkeiten zu unterfüttern.16
Washington versuchte in der Folge letztlich erfolgreich, auch diese
Initiativen, soweit von militärischer Bedeutung, über
technische Abkommen zwischen der EU und der NATO einzuhegen. Ziel war
es dabei, europäische Prozesse politisch für die USA über
deren Mitspracherechte in der NATO kontrollierbar zu machen. Die EU
sollte zwar autonome Beschlüsse zum Krisenmanagement fassen
können, nicht aber über gesicherte autonome Planungs- und
Kommandostrukturen sowie autonome Durchführungsmöglichkeiten
für entsprechende militärische Aktionen verfügen.17
Nach
den Anschlägen des 11.9.2001 drängten die USA zudem
verstärkt auf ein erweitertes, globales Engagement der NATO bei
Interventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und der
Proliferation. Mit dem Vorschlag der NATO-Response Force, einer
primär europäischen Eingreiftruppe zur Unterstützung
solcher US-geführter Interventionen, soll Europa zudem
veranlasst werden, die Modernisierung seiner Streitkräfte nach
US-Vorbild zu beschleunigen und sich auf die politische Debatte über
die Notwendigkeit und Legitimität solcher Interventionen
einzulassen.18
Da solche Einsätze bislang noch außerhalb der europäischen
Konzeption für das Krisenmanagement angesiedelt waren19,
wurde so zugleich eine sicherheitspolitische Refokusierung auf die
NATO eingeleitet. Der beschleunigte Ablauf des politischen Prozesses
verstärkt für die europäischen Staaten zudem die
Notwendigkeit, sich auf nationaler und nicht auf europäischer
Ebene zu den völkerrechtlich und politisch problematischen
Aspekten der veränderten Strategie Washingtons zu verhalten: Für
entscheidende Fragen wie jene, ob ein Mandat der UNO Voraussetzung
einer Intervention oder ob präventives oder präemptives
militärisches Handeln zulässig sein sollte, müssen
statt einer europäischen viele nationale Antworten gesucht
werden; Antworten, die eine spätere gemeinsame, europäische
Antwort erschweren, aber auch präjudizieren könnten.
Dieser Prozess impliziert zudem eine Reorientierung der europäischen
Diskussion auf die seitens der USA präferierte militärische
Seite der Sicherheitspolitik. Das unterscheidet die Vorgänge im militärischen
Bündnis NATO von der Herangehensweise in der (ursprünglich rein
zivilen) EU - in der parallel, wenn auch ungleich gewichtet, die Entwicklung
eines zivilen und eines militärischen Instrumentariums für das
Krisenmanagement vorangetrieben wird, das letztlich konsekutiv, ergänzend
oder auch integriert angewendet werden kann.
5. Europäische Antwortversuche - Die Europäische Sicherheitsstrategie
Solanas Grundzüge einer
europäischen sicherheitspolitischen Strategie und die vom
Europäischen Rat im Dezember 2003 verabschiedete Europäische
Sicherheitsstrategie spiegeln die geschilderte Entwicklung bzw. die
Gemengelage: Die Autoren versuchen, eine Balance zwischen der Vision
eines auch gegenüber Washington eigenständigen,
europäischen Ansatzes, die sich während der
ESVP-Aufbruchstimmung der Jahre 1998-2000 entwickelt hatte, und der
ihnen (unterbewusst) bekannten, bereits erfolgten Einhegung
europäischer Autonomie-Ambitionen auf militärisch-technischer
Ebene durch EU-US-Vereinbarungen durchzuhalten. Die
US-Einhegungserfolge versuchen sie so gut wie möglich zu
kaschieren, indem ihre Aussagen zu den militärischen Aspekten
der Sicherheitspolitik ausgesprochen vage und allgemein bleiben.20
Trotzdem wird die EU bereits als glaubwürdiger und
handlungsstarker Akteur im globalen sicherheitspolitischen Kontext
beschrieben.21
Das Ergebnis ist - wie könnte
es anders sein - zwiespältig. In der Analyse der
Sicherheitsrisiken folgt die Europäische Sicherheitsstrategie in
weiten Teilen der Tonlage Washingtons - allerdings mit leicht anderen
Gewichtungen. Terrorismus, die Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikte und das Scheitern von
Staaten, die Organisierte Kriminalität -aber leider nicht
mehr wie noch im Entwurf jene Risiken, die sich z.B. aus dem
drohenden Klimawandel ergeben, werden als "Hauptbedrohungen"
dargestellt.22
Sodann benennt sie drei strategische
Ziele europäischer Sicherheitspolitik: Die Abwehr der
Hauptbedrohungen, Europas Interesse an einer Stabilisierung und
Stärkung der Sicherheit in seiner weiteren Nachbarschaft
(Balkan, Nahost, Südkaukasus, Mittelmeerraum), sowie eine
"Weltordnung auf Grundlage eines wirksamen Multilateralismus",
zu der u.a. die Stärkung der Vereinten Nationen, der
Welthandelsorganisation und regionaler Organisationen gehört.
Der von Washington abgelehnte Internationale Strafgerichtshof -
im Entwurf noch explizit erwähnt - fehlt.23
Schließlich formuliert das
Dokument "Auswirkungen auf die Europäische Politik",
die man auch Anforderungen für eine verbesserte
Handlungsfähigkeit in der Zukunft nennen könnte. Verglichen
mit dem Dokument von Thessaloniki haben hier weitere Veränderungen
stattgefunden. Die Forderung nach einer strategischen Kultur, die
frühzeitiges, rasches und robustes Eingreifen fördert,
steht nun nicht mehr eindeutig im Kontext militärischer
Einsätze, sondern im Kontext des zivil-militärischen
Mittelmixes, den es möglichst wirksam einzusetzen gilt. Die
Option präventiven Eingreifens wurde scheinbar
‚entmilitarisiert’, d.h. sie bezieht sich nunmehr als
"präventives Engagement" auf politische
Wirkinstrumente, impliziert militärisches Engagement aber
letztlich doch im Rahmen jener Kultur frühzeitiger "wenn
nötig robuster Interventionen". Ausgerichtet soll das
präventive Engagement auf "humanitäre Krisen"
und "Anzeichen der Proliferation" sein.24
Unter der Überschrift: "Mehr
Handlungsfähigkeit" fordert die Strategie mehr Ressourcen
für die Verteidigung, sowie deren effizientere Nutzung,
verbesserte Möglichkeiten, zivile Krisenmanagementmittel zu
Einsatz zu bringen, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit im
diplomatischen und geheimdienstlichen Bereich. Unter dem Stichwort
"Mehr Kohärenz" wird eine verbesserte Integration
der verschiedenen politischen Handlungsoptionen der EU sowie deren
Ausrichtung auf gemeinsame politische Zielsetzungen gefordert. Neu
hinzugekommen sind in diesem Abschnitt ebenso wie in einer Passage
über Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der EU
verstärkende Formulierungen zur Kooperation mit der NATO.25
Janusköpfig ist das Dokument vor
allem, wenn es um die künftige militärische Rolle der EU,
insbesondere jene jenseits von friedensunterstützenden Maßnahmen
geht. Es stellt fest, angesichts der neuen Risiken liege die erste
Verteidigungslinie immer häufiger weit entfernt im Ausland.
Gefordert wird eine strategische Kultur für frühzeitige,
schnelle und wenn nötig robuste Interventionen. Aber eine
erkennbare, klare Konzeption für Voraussetzungen, Ziel, Art und
Charakter europäischer militärischer Interventionen fehlt.
Es wird kein Versuch unternommen, zu klären, unter welchen
Bedingungen Europa Streitkräfte einsetzen sollte und unter
welchen nicht. Manch wichtige Frage ist einfach ausgeblendet. Zum
Beispiel jene nach der Finalität der ESVP oder jene nach dem
künftigen Verhältnis von innerer und äußerer
Sicherheit. Vor allem aber die Frage nach den Kriterien, die angelegt
werden sollten, wenn über ein militärisches Engagement der
EU entschieden werden muss, bleibt unbeantwortet. Soll dies entlang
des kleinsten gemeinsamen Nenners nationaler Interessenslagen
geschehen? Oder entwickelt die EU verbindliche Voraussetzungen, die
gegeben sein müssen, wenn ein militärisches Eingreifen
erwogen werden soll? Sind beispielsweise ein UN-Mandat oder klare
militärische und politische Zielvorgaben für einen Einsatz
zwingend? Bedarf es klarer Vorgaben für eine Exit-Strategie?
Also für einen Abbruch der Mission, wenn diese sich als
undurchführbar erweist? Sollen präventive oder präemptive
militärische Schläge zulässig oder unzulässig
sein?
Damit bleiben für die
Grundausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik
entscheidende Fragen vorläufig vertagt oder bewusst
unbeantwortet, weil eine Einigung unter den Mitgliedern der EU
derzeit nicht möglich ist oder eine bewusste Positionierung der
EU in Opposition zu den Vorstellungen Washingtons nicht für
opportun gehalten wird. Es bleibt offen, ob Europa seiner
Sicherheitspolitik wie Washington eine vorrangig militärische
Ausrichtung geben sollte oder bewusst auf einen anderen Mix aus
nichtmilitärischen und militärischen Mitteln zielen und
damit eine eigenständige Krisenmanagementstrategie verfolgen
sollte. Es bleibt offen, ob sich Europa letztlich an die veränderte
Strategie Washingtons anpassen sollte oder auf Basis seiner eigenen
Interessen eine eigenständige Politik formulieren will.
Wunsch und Wirklichkeit klaffen
derzeit zudem in Europa nicht zuletzt deshalb oft noch weit
auseinander, weil nicht rechtzeitig über entscheidende Fragen
diskutiert wird. Oft werden notwendige Debatten blockiert, weil schon
das Diskutieren als Präjudiz hinsichtlich des Zieles oder
Zeitplans erachtet werden könnte oder dazu zwänge,
Positionen zu beziehen, die die tagespolitische Flexibilität
nationaler Regierungen einschränken könnte, die sich ja
auch im Rahmen der NATO oder der bilateralen Zusammenarbeit mit den
USA konkret politisch verhalten müssen. Die Stärkung der
intergouvernementalen Zusammenarbeit gegenüber der
vergemeinschafteten, die sich im Verfassungsentwurf des Europäischen
Konventes spiegelt, wird diese Tendenz weiter verstärken.
Schließlich muss angemerkt
werden, dass die neue Europäische Sicherheitsstrategie nicht
immer kohärent ist. Sie plädiert zwar deutlich für
eine Integration der außen- und sicherheitspolitischen
Wirkinstrumente der EU und erkennt an, dass die Risiken der Zukunft
nicht vorrangig mit militärischen Mitteln bekämpft werden
können. Jedoch weist sie - was den Zusammenhang zwischen
wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherheit betrifft - eine seltsame
Einäugigkeit auf: "Sicherheit" sei, so das Dokument,
"eine Vorbedingung für Entwicklung".26
Die zweite Seite der Medaille, dass nämlich Entwicklung eine
Vorbedingung für Sicherheit sein könnte, sucht man dagegen
vergebens - und mit ihr den Versuch, in der Strategie präzise
und kohärent zu beschreiben, wie nicht-militärische,
außenpolitische Wirkinstrumente wie wirtschaftliche
Zusammenarbeit, Entwicklungspolitik oder Handels- und Zollpolitik
präventiv zur Verhinderung potentiell militärisch
relevanter Konflikte beitragen können oder wie deren Wirksamkeit
mit jener militärischer Mittel effizient und zielgerichtet
integriert werden können.
6. Europas Antworten der Zukunft - Rückbesinnung auf die Rahmenbedingungen
Fragt man, wie diese Ambivalenzen,
Offenheiten, Inkonsistenzen und teilweise auch problematischen
Tendenzen bei der Entwicklung einer europäischen
Sicherheitspolitik in Zukunft produktiv aufgelöst werden können,
so ist zunächst ein erneuter Blick auf die veränderten
sicherheitspolitischen Risiken und geopolitischen Rahmenbedingungen
erforderlich.
Transformation und schneller Wandel
sind weltweit die Kennzeichen der gegenwärtigen Entwicklung.
Industriegesellschaften werden zu Informationsgesellschaften;
Agrargesellschaften teils zu Industrie-, teils zu Informations- und
Wissensgesellschaften. Die Globalisierung verändert die Welt.
Ökonomische, kulturelle und informationelle Systeme vernetzen
sich über die ganze Erde und verschärfen Konkurrenzen.
Menschen leben und wirtschaften immer weniger in Nationalstaaten und
Nationalgesellschaften. Erste Konturen einer Weltgesellschaft bilden
sich heraus - unter Bedingungen, in denen oft das Recht des
Stärkeren Vorrang vor dem vereinbarten Recht - dem
Ergebnis politisch gewollter Verrechtlichung - bekommt.
Diese Prozesse nehmen keine Rücksicht auf ungleich verteilte Ressourcen,
Produktionsmittel oder Bildungschancen. Transformation und Globalisierung verstärken
soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen mit der Konsequenz schnell
wachsender Konfliktpotentiale. Dabei besteht oft die Gefahr, dass diese gewaltförmig
ausgetragen werden, wenn es nicht rechtzeitig gelingt, sie politisch zu regulieren.
Immer mehr Staaten, die auf der Verliererseite der Transformationsprozesse stehen
oder deren Eliten es dem Staatserhalt vorziehen, ihre Gesellschaften zum eigenen,
privaten Nutzen auszubeuten, zerfallen mit der Konsequenz der Entstaatlichung
und des Verlustes der staatlichen Kontrolle über die Gewaltmittel. Die
private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt dagegen an Bedeutung, u.a.
als Instrument der Privilegienabsicherung. Vielerorts verliert das staatliche
Gewaltmonopol an Bedeutung. Der durch Globalisierung und Liberalisierung in
seinen Handlungsmöglichkeiten bereits eingeschränkte Staat bekommt
auch im Blick auf sein außen- und sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium
Konkurrenz durch nichtstaatliche Akteure (Terrorismus, Söldner, Privatarmeen).
Während die Relevanz größerer zwischenstaatlicher Kriege derzeit
abnimmt, gewinnen innerstaatliche und die sogenannten "kleinen Kriege" an Bedeutung.
Diese erfassen oft alle Lebensbereiche und die gesamte Gesellschaft, die letztlich
zu einer Kriegsgesellschaft retardiert, in der Erwerb, Sicherheit und Freiheit
der Menschen von der Kriegführung bestimmt oder beeinflusst werden. Die
Gewaltformen kleiner Kriege überlappen oft mit jenen von Terrorismus, Organisierter
Kriminalität, privatisierter Gewalt und anderen asymmetrischen Formen der
Gewaltausübung. Gewaltförmige Konfliktaustragung und Krieg werden
zur Lebensform, in der die klare Unterscheidung von Zivilbevölkerung und
Kombattanten nicht länger existiert, das humanitäre Kriegsvölkerrecht
an Bedeutung und Bindungswirkung verliert.
Die mit kleinen Kriegen verbundene
Ökonomisierung des Krieges verstärkt Not, Gewalt und
Unfreiheit gleichermaßen und unterbindet damit oft alle Chancen
zu demokratischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller
Entwicklung - die wirksamste Prävention gegen Krieg.
Die Deregulierung internationaler
Ordnung von unten, durch den Zerfall der Schwachen, schreitet fort.
Auf sie mit einer Deregulierung internationaler Ordnung von oben,
durch die Starken zu antworten, wie dies die Administration George W.
Bushs tut, vergrößert höchstwahrscheinlich nur die
den Konflikten zu Grunde liegenden Probleme und verknappt die
Ressourcen, mit denen eine kooperative Weltordnung gestaltet, Krisen
vorgebeugt und Konfliktaustragung zivilisiert werden kann. Denn: Das
Recht der wenigen Starken würde gestärkt und die
Schutzwirkung des Rechtes für die Schwachen würde
erodieren. Mithin - auch zu einer verstärkten
Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gibt es angesichts
der Charakteristika der zu Beginn dieses Beitrages diskutierten
Risiken kaum eine friedenspolitisch akzeptable Alternative.
Sicherheitspolitik wird damit immer
mehr zu einer Gestaltungsaufgabe. Weltordnung muss in all ihren
Dimensionen - von der Rechtsordnung über die Wirtschafts-
und Sozialordnung bis zur politischen Ordnung - gestaltet
werden. Aufgabe muss es sein, eine Friedensordnung zu gestalten.
Frieden als Zustand, als Abwesenheit von Krieg, zu verstehen, wäre
dabei verkürzend, ja falsch. Friedenspolitik sollte daher mit
Hans-Georg Picht als ein Prozess verstanden werden, der das ständig
neue Bemühen umfasst, die Einflüsse und Wirkungen jener
Faktoren zu mindern, die zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten führen
und beitragen: Unfreiheit, Not und Gewalt. Ob Friedenspolitik
erfolgreich praktiziert wird, ergibt sich aus der Gesamtschau der
Faktoren, dem Ergebnis aller Dimensionen friedenspolitischen
Handelns. Als Vision kann die Herausbildung einer neuen
internationalen Ordnung dienen, die nach menschenrechtlichen,
ökologischen, sozialen, demokratischen, friedlichen und
freiheitlichen Maßstäben gestaltet wird.
Ressortübergreifende Zusammenarbeit, die Verzahnung und
Integration aller außen- und sicherheitspolitischen Wirkmittel
und Instrumente zu einer "Sicherheitspolitik aus einem Guss"
ist dafür die eine wesentliche Voraussetzung. Zu diesen
Gestaltungsmitteln gehören u.a. humanitäre Hilfe,
Sanktionen, Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik,
internationale Finanzpolitik, Rüstungsexportpolitik, Diplomatie,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, aber auch die heutigen
Mittel des zivilen und militärischen Krisenmanagements. All
diese Instrumente "sollten derselben Agenda folgen. In einer
Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen",
so bemerkte Javier Solana in seinem Entwurf der Europäischen
Sicherheitsstrategie zurecht.27
Zusätzlich erforderlich ist die Bereitschaft und Fähigkeit
zu multinationaler Kooperation, zunehmender Verrechtlichung, Stärkung
multilateraler Institutionen und damit die Bereitschaft gerade der
Starken oder Stärkeren zu freiwilliger Selbstbeschränkung.
Eine kooperative, multipolare Weltordnung zu gestalten, Konfliktaustragung
zu zivilisieren und staatliche wie nichtstaatliche Akteure, die konstruktive
Beiträge leisten können, zu entwickeln, all das ist nur möglich,
wenn Friedenspolitik als Querschnittsaufgabe betrachtet wird. Die Ressourcenverteilung
zwischen den Instrumentarien einer solchen Friedenspolitik muss überprüft
und an neuen Prioritäten ausgerichtet werden.
Soll kooperative Multipolarität zum Paradigma internationaler Ordnung
werden, so müssen darüber hinaus die supranationalen (EU), multinationalen
(NATO) und internationalen Instrumente (Vereinte Nationen, Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Internationaler Währungsfond,
Weltbank) an diese Aufgabenstellung angepasst und gestärkt werden.
Globalisierter Unsicherheit und
privatisierter Gewalt kann wirksam nur mit einer multilateralen,
grenzüberschreitenden Politik für umfassende und gemeinsame
Sicherheit und an Gerechtigkeit orientierten Friedensprozessen
begegnet werden. Europa steht dabei angesichts seiner Geschichte,
seiner Erfahrung und Potentiale in besonderer Verantwortung.28
Es kann sich der Verantwortung nicht entziehen, Weltordnung mit zu
gestalten.
Der Früherkennung von (gewaltförmigen) Konflikten und der Gewaltprävention
sollten dabei Vorrang vor deren Eindämmung und Einhegung zukommen. Der
Gewalteindämmung und -einhegung muss Vorrang vor der Bekämpfung von
Gewalt mit Gewalt, d.h. vor Interventionen zukommen. Ein möglichst breit
abgestütztes multilaterales und multinationales Vorgehen muss Vorrang vor
eng begrenzten Koalitionen oder gar nationalen Alleingängen haben. Die
Arbeit für eine kooperative, multipolare Weltordnung schafft bessere Voraussetzungen
für erfolgreiche Entwicklung, Konfliktbegrenzung und Krisenprävention
als jede andere Herangehensweise. Staatliche und nicht-staatliche gesellschaftliche
Kräfte müssen bei der Förderung von Demokratie, wirtschaftlicher
Entwicklung, politischer Stabilität und somit bei der Gewaltprävention
zusammenwirken.
7. Aktive Asymmetrie - Eine europäische Sicherheitspolitik aus
einem Guss
Betrachten wir nun - und
partiell unabhängig von den kurzfristigen machtpolitischen
Realisierungschancen - die Frage, wie eine europäische
Sicherheitspolitik der Zukunft eigentlich aussehen müsste -
gerade dann, wenn sie gemeinsam, wirkungsvoll und unter Rückgriff
auf Europas breites Ressourcenpotential erfolgen würde.
Europa ist - wenn die bereits erreichte Integration nicht wieder zur Disposition
gestellt werden soll - langfristig auf dem Weg, ein einheitlicher Staat und
- vielleicht schon zuvor - ein einheitlicher Akteur in der Außen- und
Sicherheitspolitik zu werden. Dies erfordert es, dass die EU hinsichtlich aller
Souveränitätsfragen bereits heute so agieren muss, als sei das Endstadium
der Integration bereits erreicht. Souveränitätsverzicht darf nur auf
Gegenseitigkeit geübt werden - auch gegenüber der NATO oder den Vereinigten
Staaten29
- es sei denn, dies geschieht als bewusst kalkulierter Schritt der freiwilligen
Selbstbeschränkung zugunsten der Stärkung internationaler Institutionen
bzw. internationalen Rechts.30
Europas Interessen sind mit denen der
Vereinigten Staaten auch jenseits des Feldes der Risikoperzeption
nicht identisch. Übereinstimmung und Gemeinsamkeiten überwiegen
zwar, es gibt aber auch gravierende Unterschiede. So muss Europa
beispielsweise an Multilateralismus und kooperativer Multipolarität
ebenso interessiert sein wie an einer zunehmenden Verrechtlichung der
internationalen Beziehungen31
und an einer Stärkung internationaler Regime und Institutionen.
Dies ergibt sich quasi "natürlich" daraus, dass
Europa nicht "der Stärkste" ist, der "ungestraft"
von Regelverletzungen profitieren könnte. Europa muss zudem ein
Interesse daran haben, dass auf Krisen frühzeitig und mit
vorrangig nicht-militärischen Mitteln reagiert wird, nicht aber
spät und mit zumeist militärischen Instrumenten. Im
Gegensatz zu Washington verfügt die Europäische Union schon
aus historischen Gründen primär über nichtmilitärische
Ressourcen zum Konfliktmanagement. Europa muss darüber hinaus
ein Interesse haben, darüber wie auf Krisen und Konflikte
reagiert wird, auch gegenüber Washington, ein
Mitentscheidungsrecht zu haben. Dies setzt voraus, dass Europa bei
der Gestaltung von Weltordnung verantwortlich mitwirken kann und
glaubwürdige Fähigkeiten besitzt, um mitwirken zu können.
Dies gilt - gerade in den Augen Washingtons - auch im
Hinblick auf seine militärischen Fähigkeiten.
Europa wird nicht um Entscheidungen
herumkommen, mittels derer es Umfang, Auftrag und Ausrichtung seiner
militärischen Mittel bestimmt. Ähnliches gilt für die
Kriterien, mittels derer die Europäische Union und ihre
Mitglieder entscheiden, wann sie bereit sind Streitkräfte
einzusetzen und wann nicht. Bestandteil dieser notwendigen
Entscheidungsprozesse wird es auch sein, festzulegen, ob die
militärischen Krisenmanagementkräfte der Europäischen
Union jenen der USA nachempfunden sein sollen, deren Fähigkeiten
nachholend imitieren oder aufgrund unterschiedlicher
Aufgabenzuweisung anders proportioniert, ausgerichtet und
ausgestaltet werden. Hier mag es hilfreich sein, zunächst zu
fragen, in welchen Szenarien Streitkräfte aus der Europäischen
Union bzw. aus deren Mitgliedsländern am wahrscheinlichsten zum
Einsatz gelangen werden.
Hinsichtlich der
Eintrittswahrscheinlichkeit dürften - abgesehen von
kleinen Einsätzen z.B. zu humanitären oder
Evakuierungszwecken - drei Szenarien die kurz- und mittelfristige
Zukunft europäischer Streitkräfteeinsätze bestimmen.
Dies sind zum einen
friedenserhaltende und friedenserzwingende Maßnahmen, also
längere, ressourcenintensive Einsätze, die im wesentlichen
von einem niedrigen oder mittleren Gewaltniveau gekennzeichnet sind
und die der Befriedung aus humanitären Gründen bzw. dem
Wiederaufbau in ehemaligen Kriegsregionen dienen. An solchen
Einsätzen werden europäische Streitkräfte
gleichberechtigt oder auch in führender Rolle teilnehmen.
Zweitens dürften
europäische Streitkräfte - realistischerweise -
gelegentlich bei harten Interventionseinsätze zum Einsatz
kommen, wenn eine Unterstützung der USA aufgrund
übereinstimmender Interessen oder eines drohenden, inakzeptabel
großen Schadens im transatlantischen Verhältnis politisch
geraten oder geboten erscheint. Hier ist zumeist von einer
unterstützenden, nicht-gleichberechtigten Rolle und von einem
hohen Gewaltniveau im Rahmen vergleichsweise kurzer Kriegshandlungen
auszugehen.
Drittens dürften
sie - ebenfalls aus meist eher politisch - opportunistischen
Gründen - dann zum Einsatz kommen, wenn nach U.S.-geführten
Interventionen das seitens der USA ungeliebte Nation-Building
ansteht. Dabei ist - je nach Konfliktlage - von einem
zunächst eher mittleren oder niedrigen Gewaltniveau auszugehen,
wobei sich aber erst im Laufe der Zeit zeigt, ob sich die Lage im
Einsatzgebiet stabilisiert oder die Auseinandersetzungen erneut
eskalieren. Auch hier ist mit einer zumeist längeren oder gar
sehr langen Einsatzdauer zu rechnen.
Kennzeichnend für
dieses Spektrum wahrscheinlicher, militärischer Einsätze
ist es zudem, dass zielbedingt sehr unterschiedliche Fähigkeiten
gefordert und gefragt sein werden: Zum einen sind dies zur
Deeskalation beitragende, die Lage stabilisierende militärische
Fähigkeiten (quasi polizeilicher Natur), zum anderen unter allen
Bedingungen durchsetzungsfähige überlegene, dominanz- und
eskalationsfähige Interventionsfähigkeiten.
Mögliche
militärische Einsätze dürften von äußerst
unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen begleitet sein. Für
militärische Stabilisierungsmaßnahmen in oder im direkten
Umfeld Europas und europäische Beteiligungen an Maßnahmen
der Vereinten Nationen oder der OSZE, die der politischen
Interessenslage Europas entsprechen, ist mit politischem und
öffentlichem Rückhalt zu rechnen. Mit einer relativ
einheitlichen politischen Haltung der Staaten Europas wäre zu
rechnen. Europäische Mitsprache und Entscheidungsbefugnis
hinsichtlich der Frage, wie mit einer solchen aufkommenden Krise
umgegangen werden sollte, darf in den meisten Fällen als
gesichert gelten. Mit dem Vorliegen einer Mandatierung kann gerechnet
werden.
Ganz anders bei der
Unterstützung US-geführter Interventionen und bei
Nation-Building-Aufgaben nach US-Interventionen. Von Fall zu Fall
dürfte sich in diesem Kontext entscheiden, ob die USA Europa
z.B. innerhalb der NATO ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über
potentielle Interventionen, die neue Nation-Building-Aufgaben
generieren könnten, gewähren wird oder nicht. Bei
Nation-Building-Aufgaben nach unilateralen Interventionen Washingtons
- wie z.B. im Irak - träfen die europäischen
Staaten auf eine vorgegebene Lage. Es stünde die Frage, ob sie
sich beteiligen oder ob sie sich einer Beteiligung entziehen können
und wollen. Die Antwort auf diese Frage könnte unterschiedlich
ausfallen. Ähnlich ist die Situation wahrscheinlich immer dann,
wenn die USA national eine Entscheidung zugunsten einer militärischen
Intervention fällen, die Europäer nicht an dieser
Entscheidung beteiligen, trotzdem aber eine europäische
Beteiligung an ihrem Vorhaben fordern, z.B. weil auf diesem Wege in
der internationalen Öffentlichkeit ein höheres Maß an
Legitimität argumentiert oder eine militärisch und
finanziell günstigere Lastenteilung erreicht werden kann.
Schließlich kann
davon ausgegangen werden, dass Diskussionen über die
Notwendigkeit humanitärer Interventionen vorläufig
wahrscheinlicher im Rahmen der Europäischen Union geführt
werden, während sich die Frage nach der Beteiligung an
Wiederaufbau-Maßnahmen nach einer kriegerischen Intervention
sowie an solchen Interventionen selbst sich vorrangig im Rahmen der
NATO oder auch der nationalen bilateralen sicherheitspolitischen
Kooperationen mit den USA stellt.
Die Umstände, unter
denen Europa über seine Beteiligung an militärischem
Krisenmanagement wird entscheiden müssen, sind also
voraussichtlich nicht nur durch die je aktuelle Krise selbst
bestimmt, sondern auch durch Anforderungen Washingtons im Kontext der
je aktuellen politischen und militärischen Interessenslage.
Jenseits einer theoretischen Option wäre es dabei illusorisch
davon auszugehen, dass alle europäischen Staaten sich jederzeit
und in jedem Fall der Mitwirkung an US-geführten
Militäroperationen entziehen könnten - selbst dann,
wenn Sinn und Zweck dieser Operationen offen bezweifelt würden.
Mithin müssen die
europäischen Staaten für sich selbst die Frage beantworten,
in welcher Form, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Anteil
ihrer Ressourcen sie zu einer solchen Unterstützung bereit sind.
Diese Frage ist verbunden mit einer anderen: In welcher Relation
stehen die so aufgewendeten Ressourcen zu jenen, mit denen Europa
sich selbst militärische und nicht-militärische
Krisenmanagementfähigkeiten schafft. Bei der Antwortsuche können
die folgende Punkte hilfreich sein:
Ein ernsthafte
Möglichkeit für Europa, die technologischen oder
quantitativen Fähigkeiten der US-Streitkräfte zu kopieren,
besteht nicht - schon aus finanziellen Gründen. Dieser
Weg wäre zudem kontraproduktiv. Er könnte nur wissentlich
und entgegen der Analyse der Risiken und Rahmenbedingungen der
Zukunft begangen werden und würde zwar darauf hinauslaufen, die
Schwächen europäischer Krisenmanagementfähigkeiten
teilweise zu beseitigen, während andererseits deren komparative
Stärken eliminiert würden. "Aufholen, um einzuholen"
- das stellt keinen realistischen Entwicklungspfad dar.
Genauso illusorisch und
kontraproduktiv wäre es anzunehmen, dass sich die europäischen
Staaten gänzlich von der Entwicklung in den USA abkoppeln
würden, könnten oder wollten und ihre militärischen
Krisenmanagementfähigkeiten ausschließlich auf autonom
durch die Europäische Union durchzuführende Aufgaben
ausrichten würden.
-
Ein dritter Entwicklungspfad ist der Wahrscheinlichste:32
In der Europäischen Union werden begrenzte, zur Zusammenarbeit mit
den US-Streitkräften in allen potentiellen Szenarios fähige militärische
Fähigkeiten aufgebaut, deren Umfang ausreicht, um auch aus Washingtoner
Sicht einen glaubwürdigen Solidarbeitrag Europas zu signalisieren.
Diese Fähigkeiten werden zugleich darauf ausgerichtet, der Umsetzung
eigenständiger europäischer Krisenmanagementfähigkeiten Glaubwürdigkeit
zu verleihen. Deswegen umfassen sie über das von Washington Geforderte
hinaus zum Teil auch Fähigkeiten, die - wie Satellitenaufklärung,
weitreichende Führungsmittel und Lufttransportmittel - innerhalb der
NATO bestimmte US-Fähigkeiten duplizieren, aber Europa erstmals mit
einer unabhängigen Fähigkeit ausstatten. Alternativ können
sie dem Modell der "konstruktiven Duplizierung" folgen, indem sie auch bei
der NATO rare Fähigkeiten ergänzen und somit den Beitrag der Europäer
zum Leistungsspektrum des Bündnisses stärken.
Der dritte Pfad ist
allerdings nicht nur der wahrscheinlichste. Er ist auch der bei den
meisten EU-Staaten beliebteste, da er auf absehbare Zeit die
Notwendigkeit einer Entscheidung darüber umschifft, welches
Gewicht den militärischen Fähigkeiten der EU im Kontext
ihrer Gesamtfähigkeiten zum Krisenmanagement letztlich zukommen
soll. Offen lässt er auch, ob europäische
Krisenmanagementfähigkeiten künftig vorrangig im Kontext
der NATO oder der EU zum Einsatz kommen. Angesichts begrenzter
finanzieller Ressourcen und immer noch vorhandener substantieller
Widerstände innerhalb der EU gegen ein zu starkes militärisches
Engagement der Union sowie eine zu enge Verkopplung mit der NATO gilt
dieser Pfad als attraktiv. Er ist im Blick auf das langfristige
Ergebnis offen. Schließlich belässt er angesichts einer
primär intergouvernemental und nicht vergemeinschaftet
betriebenen Sicherheitspolitik die Verfügungsgewalt über
geschaffene Fähigkeiten weitgehend bei den nationalen
Regierungen. Deren politisch-taktische Flexibilität bleibt
erhalten, sie können in den Fähigkeiten ein Kapital sehen,
ihr politisches Gewicht sowohl in der NATO als auch in der EU zur
Geltung zu bringen.
Trotzdem und gerade
angesichts dieser Ambiguität wird deutlich, dass die Staaten der
Europäischen Union bei der weiteren Ausgestaltung der ESVP bald
grundlegende Entscheidungen treffen müssen, wollen sie nicht
die Gefahr laufen, Ressourcen zu vergeuden und weiter an Einfluss
einzubüßen, weil sie Getriebene und nicht Gestaltende
ihres Schicksals sind. Wenn es keine Option darstellt, "aufzuholen,
um einzuholen", müssen sie sich fragen, ob sich die
Möglichkeit bietet, "zu überholen, ohne einzuholen".
Diese Option steht aber
nur offen, wenn sowohl im Blick auf die technologischen Fähigkeiten,
als auch im Blick auf die zivilen und militärischen Strukturen
des Krisenmanagements die politische Bereitschaft besteht,
Generationssprünge zu wagen, künftig wünschenswerte
technische und strukturelle Fähigkeiten vom Ende, vom Ergebnis
her zu denken. Dies impliziert, sich aufgrund einer Analyse der
Risiken und Rahmenbedingungen über strategische Fähigkeiten,
Kosten, Mix und gewünschte Potentiale künftiger ziviler und
militärischer sicherheitspolitischer Wirkinstrumente für
eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss politisch zu
einigen. Vorhandene, begrenzte Ressourcen müssen zielgerichtet
zum Erreichen dieses Ziels eingesetzt werden. National wie auf
europäischer Ebene muss dieser Entwicklung Priorität
eingeräumt werden.
Wird ein solcher Weg
eingeschlagen, so kann eines nicht übersehen werden: Aus
historischen Gründen liegen die Stärken der vorhandenen
europäischen Fähigkeiten zum Krisenmanagement im zivilen
Bereich, in der Fähigkeit zu sozialer, politischer,
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Intervention. Dies gilt auf
europäischer Ebene noch deutlicher als auf nationaler. Dies ist
zunächst das europäische Standbein. Die militärischen
Fähigkeiten sind dagegen auf absehbare Zeit Europas Spielbein.
Wird das Spielbein trainiert, so darf nicht vergessen werden, das
Standbein rechtzeitig entsprechend zu kräftigen.
Um seine Stärken zu Geltung und
Wirkung zu bringen, muss Europa sich frühzeitig in Krisen
engagieren. Die EU kann nicht länger darauf verzichten, die
globale Tagesordnung mitzubestimmen. Sie muss Zukunftskonflikte und
Zukunftsrisiken benennen, Wege und Mittel zum Umgang mit ihnen
vorschlagen. Prävention und Präemption müssen feste
Bestandteile einer künftigen europäischen
Sicherheitspolitik sein - mit nichtmilitärischen Mitteln.
Will Europa sein Stärken ins Spiel bringen, so muss es zudem von
einem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und zugleich von einem
erweiterten Begriff der Lastenteilung im transatlantischen
Verhältnis. So sind beispielsweise Europas
entwicklungspolitische Transferleistungen ebenso wie seine Zahlungen
zur Stabilisierung Südost- oder Osteuropas zweifelsohne Beiträge
zur Sicherheit.33
Ein Mitentscheidungsrecht über den Umgang mit künftigen
Krisen und Konflikten wird sich Europa in Washington zwar trotzdem
nur sichern können, wenn es begrenzte, aber glaubwürdige
eigene Mittel zur Mitwirkung auch bei militärischen
Handlungsoptionen besitzt. Solche Mittel zu besitzen, heißt
aber nicht, sie auch immer einzusetzen. Es impliziert lediglich, sie
als letztes Mittel einsetzen zu können. Dies schafft zugleich
die Möglichkeit, deren Einsatz abzulehnen und damit dem Drängen
auf eine politische, nicht-militärische Lösung höhere
Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch dies geschähe gemeinsam
politisch wirksamer. Glaubwürdige militärische Mittel
können Europa auch bei autonomem Vorgehen als letztes Mittel
dienen, um andere Formen des Konfliktmanagements abzusichern. Sie
sind aber kein Selbstzweck und können aufgrund des Charakters
der sicherheitspolitischen Restrisiken auch kein vorrangiges Mittel
politischen Handelns sein.
Wenn Europa als einheitlicher
sicherheitspolitischer Akteur auftreten und seine Stärken
wirklich zur Geltung bringen will, dann steht es vor der
Herkulesaufgabe einer dreifachen Integration auf dem Wege zu einer
wirksamen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Integriert
werden müssen
erstens die nationalen
Sicherheitspolitiken,
zweitens die vergemeinschafteten und
intergouvernementalen Aspekte der europäischen Zusammenarbeit
und
drittens die möglichen
Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente einer europäischen
Sicherheitspolitik aus einem Guss.
Niemand hätte erwarten können,
dass es der EU, die erstmals eine eigene Sicherheitspolitik und diese
gemeinsam mit vielen Akteuren entwickeln musste, aus dem Stand
gelingen würde, innerhalb weniger Monate ein stimmiges
Gegenstück zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu
entwickeln, die ja schon lange ein einheitlicher Akteur sind. Selbst
dort benötigte Condoleezza Rice mit ihrem Team rund 20 Monate
zur Erstellung des Dokuments.
Niemand
hätte zudem erwarten können, dass die Europäische
Union binnen so kurzer Zeit einheitliche "nationale"
Interessen formulieren können. Europa hat erst begonnen, sich
mit seiner globalen Mitverantwortung für die Gestaltung von
Weltordnung wieder zu befassen. Während des Kalten Krieges
agierten die westeuropäischen Staaten - nicht zuletzt auf
Wunsch und Druck Washingtons - vorrangig in und um Europa.34
Die Europäische Union steht
nunmehr vor der Aufgabe, eine ureigene, an den eigenen Stärken,
Fähigkeiten und Interessen orientierte Sicherheitspolitik zu
entwickeln. Mit Javier Solanas Sicherheitsstrategie mag ein erster
Anfang gemacht sein. Weitere Schritte müssen folgen. Europa wird
dabei nicht umhin kommen, seine eigenen Interessen zu definieren -
als europäische Interessen und nicht als den kleinsten
gemeinsamen Nenner der Interessen der europäischen
Nationalstaaten. Dies kann nur geschehen, wenn die Gemeinsamkeiten
und Unterschiede zu den Interessen der USA möglichst genau
herausgearbeitet werden. Zudem wird es nicht umhinkommen, seine
Interessen in Relation zu seinen schon vorhandenen und zu den für
die Zukunft wünschenswerten sicherheitspolitischen
Wirkinstrumenten zu setzen. Dabei wäre es ein Fehler,
ausschließlich oder primär die militärisch
dominierten Ansätze Washingtons zu kopieren.
Die Forderungen Washingtons an die
Europäische Union, Weltordnung mit den USA vorrangig militärisch
zu gestalten, gleichen einer Einladung der amerikanischen National
Football League an die Spitzenspieler des Europäischen Fußballs,
gemeinsam an Football-Meisterschaften teilzunehmen. Nicht nur, dass
der Unterscheidung zwischen Standbein und Spielbein bei beiden
Spielen sehr unterschiedliche Bedeutung zukommt - gespielt wird
auch nach völlig verschiedenen Regeln. Diese kennt kaum ein
europäischer Spitzenfußballer - mithin er wäre
voraussichtlich nicht nur ein schlechtes Mitglied im Team, sondern
seine Kernfähigkeiten kämen weder zum Tragen noch wären
sie in den meisten Fällen überhaupt gefragt.
Europa muss aktiv und asymmetrisch auf
seinen vorhanden Fähigkeiten und Stärken aufsetzen. Diese
sind vorrangig nicht-militärischer Natur. Nur wenn diese
Fähigkeiten aktiv in die Gleichung der transatlantischen
Lastenteilung einbezogen werden, kann Europa Washington ein
(ge)wichtiger Partner sein.
Folgende Aspekte könnten deshalb
im Blick auf die Weiterentwicklung der Europäischen
Sicherheitsstrategie hilfreich sein:
Die Europäische
Sicherheitsstrategie weist darauf hin, dass Sicherheit die
Voraussetzung für Entwicklung sei. Entwicklung ist aber auch
eine Voraussetzung für Sicherheit. Daraus ergibt sich: Bislang
sind Bedeutung und Rolle der ökonomischen Aspekte in der
Europäischen Sicherheitsstrategie unterbelichtet. Dies gilt
sowohl im Hinblick auf die Analyse von Krisenursachen als auch im
Hinblick auf Ausgestaltung und Einsatz des sicherheitspolitischen
Wirkinstrumentariums. Hier sind komplementäre Ergänzungen
nötig, will Europa zu einer kohärenten Strategie und zu
einem integrierten, effizienten Mitteleinsatz bei der Umsetzung
derselben kommen.
Der Verknüpfung,
Integration und Zusammenführung aller außen- und
sicherheitspolitischen Wirkmittel der Europäischen Union, sowie
deren Ausrichtung auf gemeinsam festgelegte Ziele und Prioritäten
kommt für die Wirksamkeit und Effizienz der künftigen
Sicherheitspolitik Europas allergrößte Bedeutung zu -
dies gilt trotz der aus den Komplikationen der Notwendigkeit der
dreifachen Integration sicher folgenden Hemmnisse. Leisten die
Staaten der Europäischen Union diese Integration nicht, so
können sie ihre Stärke im Bereich nicht-militärischen
Krisenmanagements nicht zur Geltung bringen und werden zugleich in
der Verfolgung ihrer Ziele ineffizient bleiben.
Die
EU-Sicherheitsstrategie plädiert für ein frühzeitiges,
proaktives, präventives Krisenmanagement mit Vorrang für
nichtmilitärische Mittel. Dessen Charakter und die damit
verbundene Bereitschaft, potentielle Krisen frühzeitig und
rechtzeitig zu identifizieren, damit nichtmilitärische
Krisenmanagementkapazitäten ihre Wirksamkeit entfalten können,
sollte stärker herausgearbeitet werden. Eine solche Politik
impliziert die Bereitschaft zum politischen "Agenda-Setting"
- auch auf globaler Ebene und in internationalen
Institutionen.
Die Europäische
Sicherheitsstrategie macht die Bedeutung und die Rolle
nicht-traditioneller, nicht-staatlicher Akteure im Blick auf die
sicherheitspolitischen Risiken der Zukunft deutlich. Sie weist aber
keinen hinlänglichen Ansatz auf, wie das Verhalten dieser
Akteure wirksam und mit den Mitteln (zwischen)staatlicher Politik
beeinflusst werden könnte. Einen solchen Ansatz, der über
die Forderung nach (zumeist repressiver) Einschränkung der
Handlungsfreiheit der nichtstaatlichen Akteure hinausgeht, gilt es
zu entwickeln. So müssen z.B. traditionelle Handlungsfelder
zwischenstaatlicher Politik wie Proliferationsverhinderung, Export-
und Rüstungskontrolle neu ausgerichtet und neue, geeignete
Instrumente entwickelt werden.
Eine Sicherheitspolitik
aus einem Guss, die die Vorrangigkeit nicht-militärischer
Instrumente anerkennt, muss auch von entsprechenden Ressourcen
begleitet sein. Nicht nur das Mittel Militär will vorgehalten
werden, sondern gerade auch die nicht-militärischen Fähigkeiten
des Krisenmanagements. Die EU erkennt dies an, indem sie zivile
Krisenmanagementkapazitäten aufbaut. Dieser Prozess bedarf der
Stärkung und der Beschleunigung, aber auch der planerischen
Harmonisierung mit den Restrukturierungs- und Abbauprozessen im
militärischen Bereich, wenn auf die Nutzung möglicher
Synergien nicht zugunsten hoher Mehrkosten verzichtet werden soll.
Auch hier bietet sich ein ressortübergreifender Ansatz an.
Zugleich bedingt diese Umstrukturierung eine Neugewichtung und
Neuaufteilung der Ressourcen.
Eine Neugewichtung der
Ressourcenverteilung zwischen den zivilen und militärischen
Mitteln des Krisenmanagements impliziert, was auch die
Haushaltsrealitäten und die haushälterischen Prioritäten
in einer sich erweiternden EU diktieren: Für das Mittel Militär
wird künftig eher weniger denn mehr Geld zur Verfügung
stehen. Dies zwingt zur Nutzung von Einspar- und
Rationalisierungspotentialen durch eine zunehmende, angesichts der
Charakteristika der Risiken der Zukunft auch sicherheitspolitisch
sinnvolle Integration der Streitkräfte in Europa. Nationale
Streitkräftereformen sollten wo immer möglich darauf
ausgerichtet werden, diese Entwicklung zu antizipieren, also
konsequent europäisch ausgerichtet werden.
Der Vorrang der Stärkung
der Vergemeinschaftung vor der Stärkung intergouvernementaler
Zusammenarbeit muss, wo immer möglich, politisch
herausgearbeitet und praktiziert werden. Eine gemeinsame Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann Europa nur entwickeln,
wenn der Weg und die Mittel auf das Ziel ausgerichtet bleiben.
Zielwidrige Mittel sollten sich von selbst verbieten. Der
vorliegende Entwurf einer Europäischen Verfassung genügt
dieser Voraussetzung gerade auch im Blick auf die
sicherheitspolitischen Aussagen keineswegs. Er ist sogar
kontraproduktiv.
Schließlich sollte
die Europäische Union bei der weiteren Ausgestaltung ihrer
Sicherheitspolitik auch neue ungewohnte Fragen und neue Ansätze
in den Blick nehmen. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, dass es
sinnvoll sein könnte, sicherheitspolitische Investitionen und
Initiativen neu zu gewichten. Das Erste: In schöner
Regelmäßigkeit diskutieren Nationalstaaten, ob und wie
sie ihre sicherheitspolitisch relevanten industriellen
Kernfähigkeiten sichern können und müssen. Gemeint
ist dann in aller Regel die wehrtechnische Industrie. Was aber ist
die bedeutsamere industrielle Kernfähigkeit für die
Zukunft? Jene, binnen kurzer Zeit große Mengen Munition für
Gewehre oder Panzer herstellen zu können oder jene binnen
kurzer Zeit große Mengen Impfstoff gegen biologische
Kampfstoffe produzieren zu können? Das zweite Beispiel: Was
stellt eine sinnvollere sicherheitspolitische Investition dar?
Milliardeninvestitionen in die auch militärischen Fähigkeit,
die Sicherheit der Energieversorgung mit den fossilen Brennstoffen
Öl und Gas besser zu gewährleisten oder
Milliardeninvestitionen in neue und erneuerbare Energieträger
und in neue Energie- und Energiespartechnologien, die Europa
unabhängiger von Öl und Gas machen und zur Entspannung auf
den Öl- und Gasmärkten beitragen können?
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit (BITS)
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