Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktforschung
21. Sommerakademie "Die Wiedergeburt Europas"
05. Juli 2004


Auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung?
Europäische Versuche und amerikanische Antworten

von Otfried Nassauer


1. Zur Einführung

"Gibt es noch den Westen?" - so lautet eine der Fragen, die immer häufiger gestellt wird. Sie ist in Mode gekommen. Im Herbst 2003 präsentierten beispielsweise Thomas L. Friedman, der bekannte Kolumnist der New York Times, und der ehemalige Leiter der UNO-Inspektionen im Irak, Hans Blix, fast zeitgleich eine neue Variante dieser Frage: Entwickeln sich Europa und die USA unaufhaltsam auseinander, weil für Europa 1 nunmehr der 9.11.1989, das Ende des Kalten Krieges, das Identität stiftende Bezugsdatum ist, während für die USA 9/11, der 11.September 2001, der Tag der Terroranschläge in New York und Washington, diese Funktion hat?

Die Gegenfrage: Gab es jemals "den Westen"? Gab es jemals eine westliche Gemeinschaft mit gleichen Werten, identischen Interessen und mit einer wirklich gemeinsamen ideologischen und kulturellen Basis? Gingen die realen Gemeinsamkeiten des Westens tatsächlich so weit über die faktisch aus dem Antagonismus der Systemkonkurrenz wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Natur zwischen Ost und West resultierenden Grundgemeinsamkeiten hinaus, dass man von identischen Interessen hätte sprechen können?

Schon die Betrachtung sicherheitspolitischer Aspekte - also jenes Bereichs, in dem aufgrund einer gemeinsam definierten Hauptbedrohung eigentlich mit der größten Übereinstimmung zu rechnen wäre - spricht eher dafür, dass es damals wie auch heute wesentliche Unterschiede gab. Damals wie heute waren es vor allem Unterschiede in der Bedrohungsperzeption, die eine wesentliche Ursache transatlantischer, sicherheitspolitischer Differenzen darstellten. Während des Kalten Krieges hieß es beispielsweise: Ein Nuklearkrieg zwischen Ost und West setzt möglicherweise alle NATO-Staaten einer absoluten Existenzgefährdung aus. Zugleich aber gab es immer wieder Diskussionen über die Möglichkeit eines auf Europa begrenzten Atomkrieges, über An- und Abkopplung und damit deutliche Anzeichen dafür, dass es diesseits und jenseits des Atlantiks Unterschiede in der Bedrohungswahrnehmung gab. Ein Nuklearkrieg hätte nur möglicherweise aber eben nicht zwingend alle NATO-Staaten in ihrer staatlichen Existenz gefährdet. Unterschiedliche sicherheitspolitische Interessen waren die Folge: Westeuropa - wie übrigens auch Mitteleuropa als Teil der Warschauer Vertragsorganisation - war daran interessiert, dass die USA und die Sowjetunion eine nukleare Konfrontation nicht auf Europa begrenzen konnten. Für beide Supermächte hingegen wäre eine vorläufige Verschonung der eigenen Territorien auf Gegenseitigkeit durchaus eine bedenkenswerte Option gewesen. Tausende Seiten sicherheitspolitischer Fachliteratur widmeten sich allein dieser Diskussion.

Die Lage nach dem Ende des Kalten Krieges: Das Gefühl einer akuten, grundsätzlichen Bedrohung der staatlichen Existenz existiert in West- oder Mitteleuropa nicht mehr. Für die USA dagegen hat der 11.9.2001 eine neue Erfahrung impliziert. Das Ende des Traums von der Unverwundbarkeit Amerikas ist eingeläutet. Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen werden in den USA als Bedrohungen betrachtet, von manchen sogar als existenzgefährdende Bedrohung, zu deren Eliminierung jedes Mittel recht ist, sogar der Bruch bestehenden Völkerrechts oder substantielle Verletzungen der individuellen Menschenrechte. Anders in Europa: Hierzulande werden Terrorismus und Proliferation zwar auch als bedeutende Risiken eingeschätzt - nicht jedoch als einem Nuklearkrieg vergleichbare, existentielle Bedrohungen. Man kann sie eindämmen und reduzieren, aber eliminieren kann man sie nicht - so die Einschätzung der meisten europäischen Fachleute und Politiker. Sie sind mit jenen Risiken vergleichbar, die jede hochentwickelte Industriegesellschaft zur Risikogesellschaft machen. So, wie man viel für die Sicherheit eines Atomkraftwerks tun, sich letztlich aber nicht 100prozentig gegen einen GAU absichern kann, so kann eine infrastrukturell verletzliche, hochindustrialisierte Gesellschaft nicht mit letzter Sicherheit gegen einen Terroranschlag geschützt werden. Es bleibt ein Restrisiko. Was während des Kalten Krieges galt, gilt somit auch weiterhin: Westeuropa und die USA haben sicherheitspolitisch überwiegend ähnliche, aber nicht identische Interessen.

Es gab und gibt so wenig "den Westen" wie es "den Kapitalismus" oder die "freie Marktwirtschaft" gab und gibt. Wenn es sprachlich nicht so unschön klänge - korrekter wäre es, davon zu sprechen, dass es "die Westen" gibt, "die Kapitalismen" und "die (freien) Marktwirtschaften". Systemkonkurrenz findet auch heute statt - ohne als solche bezeichnet zu werden - zwischen verschiedenen Formen der Marktwirtschaft, verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus.

Dieser Beitrag diskutiert die künftigen sicherheitspolitischen Optionen Europas angesichts veränderter Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Krieges. Er fragt, welchen Veränderungen und veränderten Anforderungen sich die Sicherheitspolitik der Zukunft stellen muss, wie der Wandel in der Sicherheitspolitik Washingtons zu bewerten ist, ob Europa diesen Wandel nachvollziehen kann oder sollte, ob es eine eigenständige militärische Sicherheitspolitik betreiben sollte, und wie die bisherigen Bemühungen um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihren Stärken und Schwächen einzuschätzen sind? Schließlich wirft er die Frage auf, ob es Alternativen zu dem bisher eingeschlagenen Weg der Europäischen Union gibt und ob mit ihnen adäquater auf die veränderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen reagiert werden könnte.


2. Neue Rahmenbedingungen

Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien gegen einen klassischen, staatlich geführten militärischen Angriff von außen sind in Europa und für die USA auf absehbare Zukunft unwahrscheinlich. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht angesichts ihrer weit überlegenen militärischen Fähigkeiten ein solcher Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend sein könnte.2 Frühere potentielle, potente Gegner wie Russland haben heute ein wohlverstanden genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Kooperation, da sie von Kooperation - z.B. im Energiesektor - lebenswichtig profitieren, unter Konkurrenzbedingungen aber viel zu verlieren hätten. Mithin konzentriert sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben von Militär und Sicherheitspolitik in Deutschland, Europa und der NATO zunehmend auf verbleibende sicherheitspolitische Risiken anderer Art.

Drei Risikokategorien und den möglichen Kombinationen aus ihnen wird dabei immer wieder besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind

  • erstens Risiken, die sich im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der teilweisen bzw. vollständigen Aneignung von Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure ergeben;

  • zweitens Risiken, die sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational tätiger, bewaffneter Akteure, wie z.B. Terroristen, religiöser Extremisten oder auch transnationaler Konzerne ergeben können;

  • drittens Risiken, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche oder nicht-staatliche Akteure erwachsen könnten, da diesen Waffen ein extraordinäres Schadenspotential inhärent ist.

Hinsichtlich aller drei Risikokategorien wird von asymmetrischen Risiken gesprochen, da sie keine klassische Kriegsherausforderung, wohl aber probate Formen der gewaltförmigen Auseinandersetzung zwischen höchst ungleich gerüsteten Gegnern darstellen können. Aus Sicht der potentiellen Opponenten: David sucht seine Chance gegen Goliath.

Für all diese Risiken gilt, dass

  • kein Staat alleine, auf nationalem Wege und mit nationalen Mitteln, Sicherheit gegen diese Risiken gewährleisten kann;

  • militärische Mittel nicht und schon gar nicht alleine in der Lage sind, diese Risiken auszuschalten;

  • die bestmögliche Sicherheit in multilateraler Kooperation und mittels eines ressortübergreifenden Ansatzes, einer Sicherheitspolitik aus einem Guss, erzielt werden kann;

  • hundertprozentige Sicherheit weder möglich noch - wegen der die Demokratie gefährdenden, innenpolitisch-autoritären Nebeneffekte - erstrebenswert ist und

  • diesen Risiken nicht ausschließlich mit Maßnahmen innerhalb eines einzelnen nationalen Territoriums begegnet werden kann.

Diese sicherheitspolitische Risiken werden in den USA und in Europa hinsichtlich ihres Potentials, eine "akute" Bedrohung darzustellen, allerdings unterschiedlich bewertet. Jenseits des Atlantiks geschieht dies unter dem Vorzeichen bzw. auf dem Hintergrund der Folie der Abwehr gegen den Verlust des Traumes von der Unverwundbarkeit in Form einer Worst-Case-Analyse, die primär militärisches Handeln - ob reaktiv oder präventiv - erfordert. In Europa dagegen steht eher die Reminiszenz an die gegen Ende des Kalten Krieges geführte Debatte über die Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften als Risikogesellschaft Pate. Deswegen wird das in den USA oft als akute Bedrohung eingeschätzte Risikopotential in Europa meist als nicht völlig ausschaltbares Restrisiko betrachtet, dem man besser mit polizeilichen und anderen nicht-militärischen Präventiv-Maßnahmen vorbeugt.

Die Diskussionen in Europa machen darüber hinaus deutlich, dass auf weitere Risiken zu achten ist, die in der US-amerikanischen Debatte deutlich weniger Beachtung finden. Dies sind u.a. Risiken, die sich aus dem globalen Klimawandel (und damit auch aus der Energiepolitik), aus der organisierten Kriminalität, aus Ressourcenkonflikten, z.B. um Trinkwasser oder künftigen Migrationsströmen ergeben könnten.


3. Außen- und Sicherheitspolitik unter George W. Bush

Die Außen- und Sicherheitspolitik der Administration von US-Präsident George W. Bush 3 wird bislang von Neokonservativen dominiert, die argumentieren, dass die USA sich ihrer Rolle als alleinige Supermacht erst noch bewusst werden und daraus die Konsequenzen ziehen müssen. Es gelte, die Weltordnung so neu zu gestalten, dass diese die Aufrechterhaltung der alleinigen amerikanischen Führung erleichtere und die Herausbildung regionaler Konkurrenten erschwere. Eine deutliche Flexibilisierung der amerikanischen machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten sei vonnöten. Ein verstärkter Rückgriff auf naturrechtliche Vorstellungen, das Recht des Stärkeren, sei angemessen, weil das Verhältnis der Staaten untereinander anarchisch sei. Nicht Legalität und Recht, sondern Legitimität und Rechtfertigbarkeit rücken in den Vordergrund der Begründung konkreter politischer Schritte. Flexiblere Optionen zur Ausübung von Macht werden durch eine Politik der aktiven Deregulierung der internationalen Beziehungen erreicht. Diese nimmt verschiedene Formen an:

  1. Sie drückt sich in einer Entrechtlichung der internationalen Beziehungen aus. Rechtliche Regeln, die die eigene Handlungsfreiheit einschränken, werden beseitigt (ABM-Vertrag) oder gar nicht erst eingegangen (Internationaler Strafgerichtshof). Praktiziert wird ein Multilateralismus a la carté: Nur Vereinbarungen, die - wie der nukleare Nichtverbreitungsvertrag - dem nationalen Interesse dienlich sind, bleiben erhalten.

  2. Mit der Entrechtlichung einher geht eine Politik der Renationalisierung von Entscheidungsbefugnissen und Rechtssetzungsansprüchen. Die Bush-Administration verlagert zentrale politische Entscheidungsbefugnisse von internationalen Institutionen zur nationalen Regierung. So wurde die Entscheidung über den Irak-Krieg von New York nach Washington umgezogen.

  3. Die Deregulierung zeigt sich damit auch in einer Devaluierung internationaler Organisationen, die bisher die Aufgabe hatten, multilateral kollektive Entscheidungsprozesse zu organisieren. Sie werden vor die Wahl gestellt, "freiwillig" zu Erfüllungsgehilfen nationaler Entscheidungen der USA zu werden oder nur noch als potentielle Konsultationsgremien zu dienen bzw. ins Abseits geschoben zu werden. Sowohl die NATO als auch die Vereinten Nationen sind von dieser Tendenz betroffen.

  4. In der Bündnispolitik wird ebenfalls Multilateralismus a la carté praktiziert - als "Coalition of the Willing". Nicht Strukturen, die wie die NATO als Orte gemeinsamer Entscheidungsfindung konzipiert sind, dienen als vorrangiges Instrument multilateraler Kooperation, sondern ad-hoc-Koalitionen, die sich entlang der Vorgaben Washingtons ergeben bzw. als möglich erweisen. Donald Rumsfeld’s Diktum von der Aufgabe (mission), die die Koalition definiere, statt dass die Koalition über die Mission entscheide, beschreibt dies gut.

  5. Die Bush-Administration verfolgt eine Ausweitung der als legitim erachteten Interventionsgründe für militärische Einsätze auf dem Territorium souveräner Nationalstaaten. Neben die "humanitäre Intervention" treten die Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche wie an nichtstaatliche Akteure. Das amerikanische Rechtsverständnis ist präzedenzfallorientiert. War Kosovo der Präzedenzfall für eine humanitäre Intervention, so ist Afghanistan jener für die Bekämpfung des Terrorismus und der Irak sollte es für die Bekämpfung der Proliferation werden. 4 Auf Präzedenzfälle kann man sich berufen, wenn es gilt, künftige Interventionen als legitim darzustellen.

  6. Schließlich werden die Umstände, unter denen legitimerweise Krieg geführt werden darf, erweitert: Prävention und Präemption mit militärischen Mitteln wurden in den Kanon legitimer Handlungsmöglichkeiten aufgenommen. Dieser Schritt findet seine Analogie in einer Politik, die sich abzeichnende geopolitische Veränderungen oder Krisen nicht abwartet und darauf reagiert, sondern unter dem Vorzeichen, Weltordnung neu zu gestalten, selbst einleitet.

Die Deregulierung der internationalen Beziehungen ist kein Selbstzweck, sondern Schritt und Phase auf dem Weg zu einer den neuen Risiken und Gefährdungen angepassten internationalen Ordnung unter dauerhafter Führung der USA. Richard N. Haass, ehemals Planungsdirektor im US-Außenministerium, sprach davon, eine "Doktrin der Grenzen nationaler Souveränität" zu entwickeln, also ein Set von Werten, an das sich Regierungen halten müssen, wenn sie vor Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft oder der USA sicher sein wollen. Regierungen müssen Werte wie Demokratie, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, Nichtunterstützung von Terrorismus oder Proliferation gewährleisten. 5 Tun oder können sie das nicht, so darf und muss ein Regierungswechsel, "Regime Change", erzwungen werden können. Die vorhandenen internationalen Organisationen müssen entweder zu nützlichen Instrumenten bei der Implementierung dieser neuen Weltordnung umgestaltet werden oder aber - wenn sie sich dazu unfähig bzw. unwillig zeigen - durch neue, unter Führung Washingtons zu gründende Institutionen in ihrer legitimierenden wie unterstützenden Funktion abgelöst werden. Ähnliches gilt für das internationale Recht. Es muss angepasst werden oder es verliert seine Bindungskraft.

Ob - wie es sich in den Vorstellungen von Richard Haass andeutete - auf die Phase der Deregulierung der internationalen Beziehungen auch wirklich eine Phase der Rekonstruktion folgen wird, lässt sich heute noch nicht abschließend beurteilen. Begründete Zweifel aber sind möglich. Zum einen, weil Glaubwürdigkeit und Konsistenz für die Wertebasierung einer neuen Weltordnung unabdingbare Voraussetzungen sind. Beides steht in Frage, seit die partiell parallele Eskalation der Konflikte um die Massenvernichtungswaffen Nordkoreas und des Iraks Washington vor die Frage "Viele Kriege oder viele Standards?" stellte und die Regierung George W. Bush sich für eine Politik unterschiedlicher Standards entschied. Die Irak-Politik der Administration hat ein Übriges dazu beigetragen, um die Voraussetzungen der Glaubwürdigkeit und Konsistenz als fraglich erscheinen zu lassen. Im Blick auf die Terrorismusbekämpfung gilt ähnliches.

Es darf darüber hinaus bezweifelt werden, ob die USA über die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen verfügen, um die angedachte neue Ordnung im Alleingang und wo immer nötig militärisch durchzusetzen - das Phänomen der Gefahr der imperialen Überdehnung.

Würde dagegen nur eine Deregulierung der internationalen Beziehungen vollzogen, der Aufbau einer neuen Weltordnung auf veränderter Wertebasis aber scheitern, so wäre ein deutliches Weniger an Stabilität und ein deutliches Mehr an zwischenstaatlicher Anarchie die wahrscheinliche Folge. Als Kolalateralschaden kann eintreten, was vorgeblich verhindert und bekämpft werden soll - ein Mehr an Terror und Proliferation. Zumindest ersteres deutet sich ansatzweise im Irak bereits an. Zweiteres ist schwerer abzuschätzen, kann aber nicht ausgeschlossen werden.6 Dies hätte für Washington schwerwiegende Folgen - mehr aber noch für ein Europa, das noch kein einheitlicher politischer Akteur ist, der immer schnell genug agieren könnte. Es bleibt abzuwarten, ob Washington eine solche Entwicklungsoption als ein Ziel seiner Politik zu erkennen gibt bzw. sie als Mittel einsetzt, um dem Entstehen eines regionalen, europäischen Konkurrenten vorzubeugen.


4. Europäische Antwortversuche - Ein kurzer Rückblick

Die Europäische Union bemüht sich, auf die neuen sicherheitspolitischen Fragestellungen im Rahmen der Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) erste gemeinsame Antworten zu finden. Der Europäische Rat in Thessaloniki billigte am 19. Juni 2003 erstmals Grundzüge einer sicherheitspolitischen Strategie für die Staaten der Europäischen Union (EU).7 Diese wurden wenig - aber entscheidend - verändert anlässlich des nächsten Gipfeltreffens der EU während des Europäischen Rates in Brüssel am 12. Dezember 2003 endgültig verabschiedet.8 Das Dokument ist Ausdruck der Tatsache, dass die sicherheitspolitische Diskussion in Europa weiter in Bewegung bleibt. Die Stoßrichtung verdeutlicht ein Zitat aus dem von Javier Solana verantworteten Papier mit dem Titel ‚Ein sicheres Europa in einer besseren Welt’: "Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialproduktes weltweit erwirtschaften, ist die Europäische Union, der zudem ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung steht, zwangsläufig ein globaler Akteur. (...) Europa muss daher bereits sein, Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt zu tragen." 9

Deutlich wird, dass nichts Geringeres als eine Bestimmung der sicherheitspolitischen Rolle Europas Gegenstand der Debatte ist. 10 Im Kern geht es um Europa als global wirkenden sicherheitspolitischen Akteur. Erneut ausgelöst wurde diese Debatte zum einen durch die Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Andererseits aber und viel nachhaltiger wirkt die Neuformulierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik unter George W. Bush. Bush setzte nach acht Jahren demokratischer Präsidentschaft wieder dort an, wo sein Vorgänger und Vater, George H.W. Bush, 1992 gezwungenermaßen aufhören musste - bei der Ausgestaltung einer neuen Weltordnung für die Zeit nach der Bipolarität des Kalten Krieges, einer Weltordnung unter Führung Washingtons als einzig verbliebener Supermacht mit im nationalen Interesse distanziert-skeptischer, wenn nicht sogar ablehnender Haltung gegenüber der sicherheitspolitischen Integration Europas. Verkörpert wird diese inhaltliche Kontinuität durch den damaligen Verteidigungsminister und heutigen Vizepräsidenten Dick Cheney.11 Die neue, alte Haltung Washingtons veranlasste die EU-Staaten angesichts der mittlerweile erreichten Teilintegration der europäischen Sicherheitspolitiken zu einer Standortbestimmung trotz für die nahe und mittlere Zukunft absehbar erschwerter Rahmenbedingungen.12 Deren Ergebnis findet sich in Solanas Sicherheitsstrategie.

Europa wendete sich - rückblickend betrachtet - der Debatte über eine Anpassung der Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges und der Frage nach seiner eigenen sicherheitspolitischen und militärischen Rolle außerhalb Europas nur schrittweise und vergleichsweise langsam zu. Frankreich unternahm zunächst mit der Reaktivierung der WEU und der Initiative zu den "Petersberger Aufgaben" von 1992 einen Versuch, Europa mit friedensunterstützenden, militärischen Maßnahmen zur Unterstützung der UNO und der OSZE ein eigenständiges Handlungsfeld und Profil zu erschließen. Dieser Versuch wurde jedoch durch die Öffnung der NATO für das gleiche Aufgabenfeld und durch technische Abkommen zur Anbindung der WEU und des Eurokorps an die NATO binnen weniger Jahre wieder eingehegt.13 Fortan galt, dass sich die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO herausbilden solle.

Erst die Erweiterung der sicherheitspolitischen Befugnisse der EU durch den demnächst in Kraft tretenden Amsterdamer Vertrag und die in diesem Kontext initiierte Idee einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die letztlich in einer Europäischen Verteidigungspolitik münden soll, bot Ende 1998 wieder Anlass, über Europa als potentiell eigenständigen, sicherheitspolitischen Akteur erneut nachzudenken.14 Parallel zur Eskalation der Kosovo-Krise zum Krieg entwickelte die EU auf intergouvernementaler Ebene Grundlagen eines Konzeptes für ein autonomes europäisches Krisenmanagement im Rahmen der Petersberg-Aufgaben. Diese wurden erstmals während des informellen Treffens der EU-Außenminister in Reinhardtshausen unmittelbar vor Beginn des Krieges gebilligt und fanden nach intensiver Diskussion im Kern überraschenderweise Eingang in das Abschlusskommunique des Washingtoner NATO-Gipfels im April 1999.15 Während der Sitzung des Europäischen Rates in Köln wurden sie im Juni 1999 endgültig verabschiedet. Sechs Monate später fielen in Helsinki erste Beschlüsse, dieses Konzept durch entsprechende militärische und wenig später auch durch nicht-militärische Fähigkeiten zu unterfüttern.16 Washington versuchte in der Folge letztlich erfolgreich, auch diese Initiativen, soweit von militärischer Bedeutung, über technische Abkommen zwischen der EU und der NATO einzuhegen. Ziel war es dabei, europäische Prozesse politisch für die USA über deren Mitspracherechte in der NATO kontrollierbar zu machen. Die EU sollte zwar autonome Beschlüsse zum Krisenmanagement fassen können, nicht aber über gesicherte autonome Planungs- und Kommandostrukturen sowie autonome Durchführungsmöglichkeiten für entsprechende militärische Aktionen verfügen.17

Nach den Anschlägen des 11.9.2001 drängten die USA zudem verstärkt auf ein erweitertes, globales Engagement der NATO bei Interventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation. Mit dem Vorschlag der NATO-Response Force, einer primär europäischen Eingreiftruppe zur Unterstützung solcher US-geführter Interventionen, soll Europa zudem veranlasst werden, die Modernisierung seiner Streitkräfte nach US-Vorbild zu beschleunigen und sich auf die politische Debatte über die Notwendigkeit und Legitimität solcher Interventionen einzulassen.18 Da solche Einsätze bislang noch außerhalb der europäischen Konzeption für das Krisenmanagement angesiedelt waren19, wurde so zugleich eine sicherheitspolitische Refokusierung auf die NATO eingeleitet. Der beschleunigte Ablauf des politischen Prozesses verstärkt für die europäischen Staaten zudem die Notwendigkeit, sich auf nationaler und nicht auf europäischer Ebene zu den völkerrechtlich und politisch problematischen Aspekten der veränderten Strategie Washingtons zu verhalten: Für entscheidende Fragen wie jene, ob ein Mandat der UNO Voraussetzung einer Intervention oder ob präventives oder präemptives militärisches Handeln zulässig sein sollte, müssen statt einer europäischen viele nationale Antworten gesucht werden; Antworten, die eine spätere gemeinsame, europäische Antwort erschweren, aber auch präjudizieren könnten.

Dieser Prozess impliziert zudem eine Reorientierung der europäischen Diskussion auf die seitens der USA präferierte militärische Seite der Sicherheitspolitik. Das unterscheidet die Vorgänge im militärischen Bündnis NATO von der Herangehensweise in der (ursprünglich rein zivilen) EU - in der parallel, wenn auch ungleich gewichtet, die Entwicklung eines zivilen und eines militärischen Instrumentariums für das Krisenmanagement vorangetrieben wird, das letztlich konsekutiv, ergänzend oder auch integriert angewendet werden kann.


5. Europäische Antwortversuche - Die Europäische Sicherheitsstrategie

Solanas Grundzüge einer europäischen sicherheitspolitischen Strategie und die vom Europäischen Rat im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie spiegeln die geschilderte Entwicklung bzw. die Gemengelage: Die Autoren versuchen, eine Balance zwischen der Vision eines auch gegenüber Washington eigenständigen, europäischen Ansatzes, die sich während der ESVP-Aufbruchstimmung der Jahre 1998-2000 entwickelt hatte, und der ihnen (unterbewusst) bekannten, bereits erfolgten Einhegung europäischer Autonomie-Ambitionen auf militärisch-technischer Ebene durch EU-US-Vereinbarungen durchzuhalten. Die US-Einhegungserfolge versuchen sie so gut wie möglich zu kaschieren, indem ihre Aussagen zu den militärischen Aspekten der Sicherheitspolitik ausgesprochen vage und allgemein bleiben.20 Trotzdem wird die EU bereits als glaubwürdiger und handlungsstarker Akteur im globalen sicherheitspolitischen Kontext beschrieben.21

Das Ergebnis ist - wie könnte es anders sein - zwiespältig. In der Analyse der Sicherheitsrisiken folgt die Europäische Sicherheitsstrategie in weiten Teilen der Tonlage Washingtons - allerdings mit leicht anderen Gewichtungen. Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikte und das Scheitern von Staaten, die Organisierte Kriminalität -aber leider nicht mehr wie noch im Entwurf jene Risiken, die sich z.B. aus dem drohenden Klimawandel ergeben, werden als "Hauptbedrohungen" dargestellt.22

Sodann benennt sie drei strategische Ziele europäischer Sicherheitspolitik: Die Abwehr der Hauptbedrohungen, Europas Interesse an einer Stabilisierung und Stärkung der Sicherheit in seiner weiteren Nachbarschaft (Balkan, Nahost, Südkaukasus, Mittelmeerraum), sowie eine "Weltordnung auf Grundlage eines wirksamen Multilateralismus", zu der u.a. die Stärkung der Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation und regionaler Organisationen gehört. Der von Washington abgelehnte Internationale Strafgerichtshof - im Entwurf noch explizit erwähnt - fehlt.23

Schließlich formuliert das Dokument "Auswirkungen auf die Europäische Politik", die man auch Anforderungen für eine verbesserte Handlungsfähigkeit in der Zukunft nennen könnte. Verglichen mit dem Dokument von Thessaloniki haben hier weitere Veränderungen stattgefunden. Die Forderung nach einer strategischen Kultur, die frühzeitiges, rasches und robustes Eingreifen fördert, steht nun nicht mehr eindeutig im Kontext militärischer Einsätze, sondern im Kontext des zivil-militärischen Mittelmixes, den es möglichst wirksam einzusetzen gilt. Die Option präventiven Eingreifens wurde scheinbar ‚entmilitarisiert’, d.h. sie bezieht sich nunmehr als "präventives Engagement" auf politische Wirkinstrumente, impliziert militärisches Engagement aber letztlich doch im Rahmen jener Kultur frühzeitiger "wenn nötig robuster Interventionen". Ausgerichtet soll das präventive Engagement auf "humanitäre Krisen" und "Anzeichen der Proliferation" sein.24

Unter der Überschrift: "Mehr Handlungsfähigkeit" fordert die Strategie mehr Ressourcen für die Verteidigung, sowie deren effizientere Nutzung, verbesserte Möglichkeiten, zivile Krisenmanagementmittel zu Einsatz zu bringen, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit im diplomatischen und geheimdienstlichen Bereich. Unter dem Stichwort "Mehr Kohärenz" wird eine verbesserte Integration der verschiedenen politischen Handlungsoptionen der EU sowie deren Ausrichtung auf gemeinsame politische Zielsetzungen gefordert. Neu hinzugekommen sind in diesem Abschnitt ebenso wie in einer Passage über Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der EU verstärkende Formulierungen zur Kooperation mit der NATO.25

Janusköpfig ist das Dokument vor allem, wenn es um die künftige militärische Rolle der EU, insbesondere jene jenseits von friedensunterstützenden Maßnahmen geht. Es stellt fest, angesichts der neuen Risiken liege die erste Verteidigungslinie immer häufiger weit entfernt im Ausland. Gefordert wird eine strategische Kultur für frühzeitige, schnelle und wenn nötig robuste Interventionen. Aber eine erkennbare, klare Konzeption für Voraussetzungen, Ziel, Art und Charakter europäischer militärischer Interventionen fehlt. Es wird kein Versuch unternommen, zu klären, unter welchen Bedingungen Europa Streitkräfte einsetzen sollte und unter welchen nicht. Manch wichtige Frage ist einfach ausgeblendet. Zum Beispiel jene nach der Finalität der ESVP oder jene nach dem künftigen Verhältnis von innerer und äußerer Sicherheit. Vor allem aber die Frage nach den Kriterien, die angelegt werden sollten, wenn über ein militärisches Engagement der EU entschieden werden muss, bleibt unbeantwortet. Soll dies entlang des kleinsten gemeinsamen Nenners nationaler Interessenslagen geschehen? Oder entwickelt die EU verbindliche Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, wenn ein militärisches Eingreifen erwogen werden soll? Sind beispielsweise ein UN-Mandat oder klare militärische und politische Zielvorgaben für einen Einsatz zwingend? Bedarf es klarer Vorgaben für eine Exit-Strategie? Also für einen Abbruch der Mission, wenn diese sich als undurchführbar erweist? Sollen präventive oder präemptive militärische Schläge zulässig oder unzulässig sein?

Damit bleiben für die Grundausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik entscheidende Fragen vorläufig vertagt oder bewusst unbeantwortet, weil eine Einigung unter den Mitgliedern der EU derzeit nicht möglich ist oder eine bewusste Positionierung der EU in Opposition zu den Vorstellungen Washingtons nicht für opportun gehalten wird. Es bleibt offen, ob Europa seiner Sicherheitspolitik wie Washington eine vorrangig militärische Ausrichtung geben sollte oder bewusst auf einen anderen Mix aus nichtmilitärischen und militärischen Mitteln zielen und damit eine eigenständige Krisenmanagementstrategie verfolgen sollte. Es bleibt offen, ob sich Europa letztlich an die veränderte Strategie Washingtons anpassen sollte oder auf Basis seiner eigenen Interessen eine eigenständige Politik formulieren will.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen derzeit zudem in Europa nicht zuletzt deshalb oft noch weit auseinander, weil nicht rechtzeitig über entscheidende Fragen diskutiert wird. Oft werden notwendige Debatten blockiert, weil schon das Diskutieren als Präjudiz hinsichtlich des Zieles oder Zeitplans erachtet werden könnte oder dazu zwänge, Positionen zu beziehen, die die tagespolitische Flexibilität nationaler Regierungen einschränken könnte, die sich ja auch im Rahmen der NATO oder der bilateralen Zusammenarbeit mit den USA konkret politisch verhalten müssen. Die Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit gegenüber der vergemeinschafteten, die sich im Verfassungsentwurf des Europäischen Konventes spiegelt, wird diese Tendenz weiter verstärken.

Schließlich muss angemerkt werden, dass die neue Europäische Sicherheitsstrategie nicht immer kohärent ist. Sie plädiert zwar deutlich für eine Integration der außen- und sicherheitspolitischen Wirkinstrumente der EU und erkennt an, dass die Risiken der Zukunft nicht vorrangig mit militärischen Mitteln bekämpft werden können. Jedoch weist sie - was den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherheit betrifft - eine seltsame Einäugigkeit auf: "Sicherheit" sei, so das Dokument, "eine Vorbedingung für Entwicklung".26 Die zweite Seite der Medaille, dass nämlich Entwicklung eine Vorbedingung für Sicherheit sein könnte, sucht man dagegen vergebens - und mit ihr den Versuch, in der Strategie präzise und kohärent zu beschreiben, wie nicht-militärische, außenpolitische Wirkinstrumente wie wirtschaftliche Zusammenarbeit, Entwicklungspolitik oder Handels- und Zollpolitik präventiv zur Verhinderung potentiell militärisch relevanter Konflikte beitragen können oder wie deren Wirksamkeit mit jener militärischer Mittel effizient und zielgerichtet integriert werden können.


6. Europas Antworten der Zukunft - Rückbesinnung auf die Rahmenbedingungen

Fragt man, wie diese Ambivalenzen, Offenheiten, Inkonsistenzen und teilweise auch problematischen Tendenzen bei der Entwicklung einer europäischen Sicherheitspolitik in Zukunft produktiv aufgelöst werden können, so ist zunächst ein erneuter Blick auf die veränderten sicherheitspolitischen Risiken und geopolitischen Rahmenbedingungen erforderlich.

Transformation und schneller Wandel sind weltweit die Kennzeichen der gegenwärtigen Entwicklung. Industriegesellschaften werden zu Informationsgesellschaften; Agrargesellschaften teils zu Industrie-, teils zu Informations- und Wissensgesellschaften. Die Globalisierung verändert die Welt. Ökonomische, kulturelle und informationelle Systeme vernetzen sich über die ganze Erde und verschärfen Konkurrenzen. Menschen leben und wirtschaften immer weniger in Nationalstaaten und Nationalgesellschaften. Erste Konturen einer Weltgesellschaft bilden sich heraus - unter Bedingungen, in denen oft das Recht des Stärkeren Vorrang vor dem vereinbarten Recht - dem Ergebnis politisch gewollter Verrechtlichung - bekommt.

Diese Prozesse nehmen keine Rücksicht auf ungleich verteilte Ressourcen, Produktionsmittel oder Bildungschancen. Transformation und Globalisierung verstärken soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen mit der Konsequenz schnell wachsender Konfliktpotentiale. Dabei besteht oft die Gefahr, dass diese gewaltförmig ausgetragen werden, wenn es nicht rechtzeitig gelingt, sie politisch zu regulieren. Immer mehr Staaten, die auf der Verliererseite der Transformationsprozesse stehen oder deren Eliten es dem Staatserhalt vorziehen, ihre Gesellschaften zum eigenen, privaten Nutzen auszubeuten, zerfallen mit der Konsequenz der Entstaatlichung und des Verlustes der staatlichen Kontrolle über die Gewaltmittel. Die private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt dagegen an Bedeutung, u.a. als Instrument der Privilegienabsicherung. Vielerorts verliert das staatliche Gewaltmonopol an Bedeutung. Der durch Globalisierung und Liberalisierung in seinen Handlungsmöglichkeiten bereits eingeschränkte Staat bekommt auch im Blick auf sein außen- und sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium Konkurrenz durch nichtstaatliche Akteure (Terrorismus, Söldner, Privatarmeen). Während die Relevanz größerer zwischenstaatlicher Kriege derzeit abnimmt, gewinnen innerstaatliche und die sogenannten "kleinen Kriege" an Bedeutung. Diese erfassen oft alle Lebensbereiche und die gesamte Gesellschaft, die letztlich zu einer Kriegsgesellschaft retardiert, in der Erwerb, Sicherheit und Freiheit der Menschen von der Kriegführung bestimmt oder beeinflusst werden. Die Gewaltformen kleiner Kriege überlappen oft mit jenen von Terrorismus, Organisierter Kriminalität, privatisierter Gewalt und anderen asymmetrischen Formen der Gewaltausübung. Gewaltförmige Konfliktaustragung und Krieg werden zur Lebensform, in der die klare Unterscheidung von Zivilbevölkerung und Kombattanten nicht länger existiert, das humanitäre Kriegsvölkerrecht an Bedeutung und Bindungswirkung verliert.

Die mit kleinen Kriegen verbundene Ökonomisierung des Krieges verstärkt Not, Gewalt und Unfreiheit gleichermaßen und unterbindet damit oft alle Chancen zu demokratischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung - die wirksamste Prävention gegen Krieg.

Die Deregulierung internationaler Ordnung von unten, durch den Zerfall der Schwachen, schreitet fort. Auf sie mit einer Deregulierung internationaler Ordnung von oben, durch die Starken zu antworten, wie dies die Administration George W. Bushs tut, vergrößert höchstwahrscheinlich nur die den Konflikten zu Grunde liegenden Probleme und verknappt die Ressourcen, mit denen eine kooperative Weltordnung gestaltet, Krisen vorgebeugt und Konfliktaustragung zivilisiert werden kann. Denn: Das Recht der wenigen Starken würde gestärkt und die Schutzwirkung des Rechtes für die Schwachen würde erodieren. Mithin - auch zu einer verstärkten Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gibt es angesichts der Charakteristika der zu Beginn dieses Beitrages diskutierten Risiken kaum eine friedenspolitisch akzeptable Alternative.

Sicherheitspolitik wird damit immer mehr zu einer Gestaltungsaufgabe. Weltordnung muss in all ihren Dimensionen - von der Rechtsordnung über die Wirtschafts- und Sozialordnung bis zur politischen Ordnung - gestaltet werden. Aufgabe muss es sein, eine Friedensordnung zu gestalten. Frieden als Zustand, als Abwesenheit von Krieg, zu verstehen, wäre dabei verkürzend, ja falsch. Friedenspolitik sollte daher mit Hans-Georg Picht als ein Prozess verstanden werden, der das ständig neue Bemühen umfasst, die Einflüsse und Wirkungen jener Faktoren zu mindern, die zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten führen und beitragen: Unfreiheit, Not und Gewalt. Ob Friedenspolitik erfolgreich praktiziert wird, ergibt sich aus der Gesamtschau der Faktoren, dem Ergebnis aller Dimensionen friedenspolitischen Handelns. Als Vision kann die Herausbildung einer neuen internationalen Ordnung dienen, die nach menschenrechtlichen, ökologischen, sozialen, demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Maßstäben gestaltet wird. Ressortübergreifende Zusammenarbeit, die Verzahnung und Integration aller außen- und sicherheitspolitischen Wirkmittel und Instrumente zu einer "Sicherheitspolitik aus einem Guss" ist dafür die eine wesentliche Voraussetzung. Zu diesen Gestaltungsmitteln gehören u.a. humanitäre Hilfe, Sanktionen, Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik, internationale Finanzpolitik, Rüstungsexportpolitik, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, aber auch die heutigen Mittel des zivilen und militärischen Krisenmanagements. All diese Instrumente "sollten derselben Agenda folgen. In einer Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen", so bemerkte Javier Solana in seinem Entwurf der Europäischen Sicherheitsstrategie zurecht.27 Zusätzlich erforderlich ist die Bereitschaft und Fähigkeit zu multinationaler Kooperation, zunehmender Verrechtlichung, Stärkung multilateraler Institutionen und damit die Bereitschaft gerade der Starken oder Stärkeren zu freiwilliger Selbstbeschränkung.

Eine kooperative, multipolare Weltordnung zu gestalten, Konfliktaustragung zu zivilisieren und staatliche wie nichtstaatliche Akteure, die konstruktive Beiträge leisten können, zu entwickeln, all das ist nur möglich, wenn Friedenspolitik als Querschnittsaufgabe betrachtet wird. Die Ressourcenverteilung zwischen den Instrumentarien einer solchen Friedenspolitik muss überprüft und an neuen Prioritäten ausgerichtet werden.

Soll kooperative Multipolarität zum Paradigma internationaler Ordnung werden, so müssen darüber hinaus die supranationalen (EU), multinationalen (NATO) und internationalen Instrumente (Vereinte Nationen, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Internationaler Währungsfond, Weltbank) an diese Aufgabenstellung angepasst und gestärkt werden.

Globalisierter Unsicherheit und privatisierter Gewalt kann wirksam nur mit einer multilateralen, grenzüberschreitenden Politik für umfassende und gemeinsame Sicherheit und an Gerechtigkeit orientierten Friedensprozessen begegnet werden. Europa steht dabei angesichts seiner Geschichte, seiner Erfahrung und Potentiale in besonderer Verantwortung.28 Es kann sich der Verantwortung nicht entziehen, Weltordnung mit zu gestalten.

Der Früherkennung von (gewaltförmigen) Konflikten und der Gewaltprävention sollten dabei Vorrang vor deren Eindämmung und Einhegung zukommen. Der Gewalteindämmung und -einhegung muss Vorrang vor der Bekämpfung von Gewalt mit Gewalt, d.h. vor Interventionen zukommen. Ein möglichst breit abgestütztes multilaterales und multinationales Vorgehen muss Vorrang vor eng begrenzten Koalitionen oder gar nationalen Alleingängen haben. Die Arbeit für eine kooperative, multipolare Weltordnung schafft bessere Voraussetzungen für erfolgreiche Entwicklung, Konfliktbegrenzung und Krisenprävention als jede andere Herangehensweise. Staatliche und nicht-staatliche gesellschaftliche Kräfte müssen bei der Förderung von Demokratie, wirtschaftlicher Entwicklung, politischer Stabilität und somit bei der Gewaltprävention zusammenwirken.


7. Aktive Asymmetrie - Eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss

Betrachten wir nun - und partiell unabhängig von den kurzfristigen machtpolitischen Realisierungschancen - die Frage, wie eine europäische Sicherheitspolitik der Zukunft eigentlich aussehen müsste - gerade dann, wenn sie gemeinsam, wirkungsvoll und unter Rückgriff auf Europas breites Ressourcenpotential erfolgen würde.

Europa ist - wenn die bereits erreichte Integration nicht wieder zur Disposition gestellt werden soll - langfristig auf dem Weg, ein einheitlicher Staat und - vielleicht schon zuvor - ein einheitlicher Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik zu werden. Dies erfordert es, dass die EU hinsichtlich aller Souveränitätsfragen bereits heute so agieren muss, als sei das Endstadium der Integration bereits erreicht. Souveränitätsverzicht darf nur auf Gegenseitigkeit geübt werden - auch gegenüber der NATO oder den Vereinigten Staaten29 - es sei denn, dies geschieht als bewusst kalkulierter Schritt der freiwilligen Selbstbeschränkung zugunsten der Stärkung internationaler Institutionen bzw. internationalen Rechts.30

Europas Interessen sind mit denen der Vereinigten Staaten auch jenseits des Feldes der Risikoperzeption nicht identisch. Übereinstimmung und Gemeinsamkeiten überwiegen zwar, es gibt aber auch gravierende Unterschiede. So muss Europa beispielsweise an Multilateralismus und kooperativer Multipolarität ebenso interessiert sein wie an einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen31 und an einer Stärkung internationaler Regime und Institutionen. Dies ergibt sich quasi "natürlich" daraus, dass Europa nicht "der Stärkste" ist, der "ungestraft" von Regelverletzungen profitieren könnte. Europa muss zudem ein Interesse daran haben, dass auf Krisen frühzeitig und mit vorrangig nicht-militärischen Mitteln reagiert wird, nicht aber spät und mit zumeist militärischen Instrumenten. Im Gegensatz zu Washington verfügt die Europäische Union schon aus historischen Gründen primär über nichtmilitärische Ressourcen zum Konfliktmanagement. Europa muss darüber hinaus ein Interesse haben, darüber wie auf Krisen und Konflikte reagiert wird, auch gegenüber Washington, ein Mitentscheidungsrecht zu haben. Dies setzt voraus, dass Europa bei der Gestaltung von Weltordnung verantwortlich mitwirken kann und glaubwürdige Fähigkeiten besitzt, um mitwirken zu können. Dies gilt - gerade in den Augen Washingtons - auch im Hinblick auf seine militärischen Fähigkeiten.

Europa wird nicht um Entscheidungen herumkommen, mittels derer es Umfang, Auftrag und Ausrichtung seiner militärischen Mittel bestimmt. Ähnliches gilt für die Kriterien, mittels derer die Europäische Union und ihre Mitglieder entscheiden, wann sie bereit sind Streitkräfte einzusetzen und wann nicht. Bestandteil dieser notwendigen Entscheidungsprozesse wird es auch sein, festzulegen, ob die militärischen Krisenmanagementkräfte der Europäischen Union jenen der USA nachempfunden sein sollen, deren Fähigkeiten nachholend imitieren oder aufgrund unterschiedlicher Aufgabenzuweisung anders proportioniert, ausgerichtet und ausgestaltet werden. Hier mag es hilfreich sein, zunächst zu fragen, in welchen Szenarien Streitkräfte aus der Europäischen Union bzw. aus deren Mitgliedsländern am wahrscheinlichsten zum Einsatz gelangen werden.

Hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit dürften - abgesehen von kleinen Einsätzen z.B. zu humanitären oder Evakuierungszwecken - drei Szenarien die kurz- und mittelfristige Zukunft europäischer Streitkräfteeinsätze bestimmen.

  • Dies sind zum einen friedenserhaltende und friedenserzwingende Maßnahmen, also längere, ressourcenintensive Einsätze, die im wesentlichen von einem niedrigen oder mittleren Gewaltniveau gekennzeichnet sind und die der Befriedung aus humanitären Gründen bzw. dem Wiederaufbau in ehemaligen Kriegsregionen dienen. An solchen Einsätzen werden europäische Streitkräfte gleichberechtigt oder auch in führender Rolle teilnehmen.

  • Zweitens dürften europäische Streitkräfte - realistischerweise - gelegentlich bei harten Interventionseinsätze zum Einsatz kommen, wenn eine Unterstützung der USA aufgrund übereinstimmender Interessen oder eines drohenden, inakzeptabel großen Schadens im transatlantischen Verhältnis politisch geraten oder geboten erscheint. Hier ist zumeist von einer unterstützenden, nicht-gleichberechtigten Rolle und von einem hohen Gewaltniveau im Rahmen vergleichsweise kurzer Kriegshandlungen auszugehen.

  • Drittens dürften sie - ebenfalls aus meist eher politisch - opportunistischen Gründen - dann zum Einsatz kommen, wenn nach U.S.-geführten Interventionen das seitens der USA ungeliebte Nation-Building ansteht. Dabei ist - je nach Konfliktlage - von einem zunächst eher mittleren oder niedrigen Gewaltniveau auszugehen, wobei sich aber erst im Laufe der Zeit zeigt, ob sich die Lage im Einsatzgebiet stabilisiert oder die Auseinandersetzungen erneut eskalieren. Auch hier ist mit einer zumeist längeren oder gar sehr langen Einsatzdauer zu rechnen.

Kennzeichnend für dieses Spektrum wahrscheinlicher, militärischer Einsätze ist es zudem, dass zielbedingt sehr unterschiedliche Fähigkeiten gefordert und gefragt sein werden: Zum einen sind dies zur Deeskalation beitragende, die Lage stabilisierende militärische Fähigkeiten (quasi polizeilicher Natur), zum anderen unter allen Bedingungen durchsetzungsfähige überlegene, dominanz- und eskalationsfähige Interventionsfähigkeiten.

Mögliche militärische Einsätze dürften von äußerst unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen begleitet sein. Für militärische Stabilisierungsmaßnahmen in oder im direkten Umfeld Europas und europäische Beteiligungen an Maßnahmen der Vereinten Nationen oder der OSZE, die der politischen Interessenslage Europas entsprechen, ist mit politischem und öffentlichem Rückhalt zu rechnen. Mit einer relativ einheitlichen politischen Haltung der Staaten Europas wäre zu rechnen. Europäische Mitsprache und Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Frage, wie mit einer solchen aufkommenden Krise umgegangen werden sollte, darf in den meisten Fällen als gesichert gelten. Mit dem Vorliegen einer Mandatierung kann gerechnet werden.

Ganz anders bei der Unterstützung US-geführter Interventionen und bei Nation-Building-Aufgaben nach US-Interventionen. Von Fall zu Fall dürfte sich in diesem Kontext entscheiden, ob die USA Europa z.B. innerhalb der NATO ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über potentielle Interventionen, die neue Nation-Building-Aufgaben generieren könnten, gewähren wird oder nicht. Bei Nation-Building-Aufgaben nach unilateralen Interventionen Washingtons - wie z.B. im Irak - träfen die europäischen Staaten auf eine vorgegebene Lage. Es stünde die Frage, ob sie sich beteiligen oder ob sie sich einer Beteiligung entziehen können und wollen. Die Antwort auf diese Frage könnte unterschiedlich ausfallen. Ähnlich ist die Situation wahrscheinlich immer dann, wenn die USA national eine Entscheidung zugunsten einer militärischen Intervention fällen, die Europäer nicht an dieser Entscheidung beteiligen, trotzdem aber eine europäische Beteiligung an ihrem Vorhaben fordern, z.B. weil auf diesem Wege in der internationalen Öffentlichkeit ein höheres Maß an Legitimität argumentiert oder eine militärisch und finanziell günstigere Lastenteilung erreicht werden kann.

Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass Diskussionen über die Notwendigkeit humanitärer Interventionen vorläufig wahrscheinlicher im Rahmen der Europäischen Union geführt werden, während sich die Frage nach der Beteiligung an Wiederaufbau-Maßnahmen nach einer kriegerischen Intervention sowie an solchen Interventionen selbst sich vorrangig im Rahmen der NATO oder auch der nationalen bilateralen sicherheitspolitischen Kooperationen mit den USA stellt.

Die Umstände, unter denen Europa über seine Beteiligung an militärischem Krisenmanagement wird entscheiden müssen, sind also voraussichtlich nicht nur durch die je aktuelle Krise selbst bestimmt, sondern auch durch Anforderungen Washingtons im Kontext der je aktuellen politischen und militärischen Interessenslage. Jenseits einer theoretischen Option wäre es dabei illusorisch davon auszugehen, dass alle europäischen Staaten sich jederzeit und in jedem Fall der Mitwirkung an US-geführten Militäroperationen entziehen könnten - selbst dann, wenn Sinn und Zweck dieser Operationen offen bezweifelt würden.

Mithin müssen die europäischen Staaten für sich selbst die Frage beantworten, in welcher Form, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Anteil ihrer Ressourcen sie zu einer solchen Unterstützung bereit sind. Diese Frage ist verbunden mit einer anderen: In welcher Relation stehen die so aufgewendeten Ressourcen zu jenen, mit denen Europa sich selbst militärische und nicht-militärische Krisenmanagementfähigkeiten schafft. Bei der Antwortsuche können die folgende Punkte hilfreich sein:

  • Ein ernsthafte Möglichkeit für Europa, die technologischen oder quantitativen Fähigkeiten der US-Streitkräfte zu kopieren, besteht nicht - schon aus finanziellen Gründen. Dieser Weg wäre zudem kontraproduktiv. Er könnte nur wissentlich und entgegen der Analyse der Risiken und Rahmenbedingungen der Zukunft begangen werden und würde zwar darauf hinauslaufen, die Schwächen europäischer Krisenmanagementfähigkeiten teilweise zu beseitigen, während andererseits deren komparative Stärken eliminiert würden. "Aufholen, um einzuholen" - das stellt keinen realistischen Entwicklungspfad dar.

  • Genauso illusorisch und kontraproduktiv wäre es anzunehmen, dass sich die europäischen Staaten gänzlich von der Entwicklung in den USA abkoppeln würden, könnten oder wollten und ihre militärischen Krisenmanagementfähigkeiten ausschließlich auf autonom durch die Europäische Union durchzuführende Aufgaben ausrichten würden.

  • Ein dritter Entwicklungspfad ist der Wahrscheinlichste:32 In der Europäischen Union werden begrenzte, zur Zusammenarbeit mit den US-Streitkräften in allen potentiellen Szenarios fähige militärische Fähigkeiten aufgebaut, deren Umfang ausreicht, um auch aus Washingtoner Sicht einen glaubwürdigen Solidarbeitrag Europas zu signalisieren. Diese Fähigkeiten werden zugleich darauf ausgerichtet, der Umsetzung eigenständiger europäischer Krisenmanagementfähigkeiten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Deswegen umfassen sie über das von Washington Geforderte hinaus zum Teil auch Fähigkeiten, die - wie Satellitenaufklärung, weitreichende Führungsmittel und Lufttransportmittel - innerhalb der NATO bestimmte US-Fähigkeiten duplizieren, aber Europa erstmals mit einer unabhängigen Fähigkeit ausstatten. Alternativ können sie dem Modell der "konstruktiven Duplizierung" folgen, indem sie auch bei der NATO rare Fähigkeiten ergänzen und somit den Beitrag der Europäer zum Leistungsspektrum des Bündnisses stärken.

Der dritte Pfad ist allerdings nicht nur der wahrscheinlichste. Er ist auch der bei den meisten EU-Staaten beliebteste, da er auf absehbare Zeit die Notwendigkeit einer Entscheidung darüber umschifft, welches Gewicht den militärischen Fähigkeiten der EU im Kontext ihrer Gesamtfähigkeiten zum Krisenmanagement letztlich zukommen soll. Offen lässt er auch, ob europäische Krisenmanagementfähigkeiten künftig vorrangig im Kontext der NATO oder der EU zum Einsatz kommen. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen und immer noch vorhandener substantieller Widerstände innerhalb der EU gegen ein zu starkes militärisches Engagement der Union sowie eine zu enge Verkopplung mit der NATO gilt dieser Pfad als attraktiv. Er ist im Blick auf das langfristige Ergebnis offen. Schließlich belässt er angesichts einer primär intergouvernemental und nicht vergemeinschaftet betriebenen Sicherheitspolitik die Verfügungsgewalt über geschaffene Fähigkeiten weitgehend bei den nationalen Regierungen. Deren politisch-taktische Flexibilität bleibt erhalten, sie können in den Fähigkeiten ein Kapital sehen, ihr politisches Gewicht sowohl in der NATO als auch in der EU zur Geltung zu bringen.

Trotzdem und gerade angesichts dieser Ambiguität wird deutlich, dass die Staaten der Europäischen Union bei der weiteren Ausgestaltung der ESVP bald grundlegende Entscheidungen treffen müssen, wollen sie nicht die Gefahr laufen, Ressourcen zu vergeuden und weiter an Einfluss einzubüßen, weil sie Getriebene und nicht Gestaltende ihres Schicksals sind. Wenn es keine Option darstellt, "aufzuholen, um einzuholen", müssen sie sich fragen, ob sich die Möglichkeit bietet, "zu überholen, ohne einzuholen".

Diese Option steht aber nur offen, wenn sowohl im Blick auf die technologischen Fähigkeiten, als auch im Blick auf die zivilen und militärischen Strukturen des Krisenmanagements die politische Bereitschaft besteht, Generationssprünge zu wagen, künftig wünschenswerte technische und strukturelle Fähigkeiten vom Ende, vom Ergebnis her zu denken. Dies impliziert, sich aufgrund einer Analyse der Risiken und Rahmenbedingungen über strategische Fähigkeiten, Kosten, Mix und gewünschte Potentiale künftiger ziviler und militärischer sicherheitspolitischer Wirkinstrumente für eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss politisch zu einigen. Vorhandene, begrenzte Ressourcen müssen zielgerichtet zum Erreichen dieses Ziels eingesetzt werden. National wie auf europäischer Ebene muss dieser Entwicklung Priorität eingeräumt werden.

Wird ein solcher Weg eingeschlagen, so kann eines nicht übersehen werden: Aus historischen Gründen liegen die Stärken der vorhandenen europäischen Fähigkeiten zum Krisenmanagement im zivilen Bereich, in der Fähigkeit zu sozialer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Intervention. Dies gilt auf europäischer Ebene noch deutlicher als auf nationaler. Dies ist zunächst das europäische Standbein. Die militärischen Fähigkeiten sind dagegen auf absehbare Zeit Europas Spielbein. Wird das Spielbein trainiert, so darf nicht vergessen werden, das Standbein rechtzeitig entsprechend zu kräftigen.

Um seine Stärken zu Geltung und Wirkung zu bringen, muss Europa sich frühzeitig in Krisen engagieren. Die EU kann nicht länger darauf verzichten, die globale Tagesordnung mitzubestimmen. Sie muss Zukunftskonflikte und Zukunftsrisiken benennen, Wege und Mittel zum Umgang mit ihnen vorschlagen. Prävention und Präemption müssen feste Bestandteile einer künftigen europäischen Sicherheitspolitik sein - mit nichtmilitärischen Mitteln. Will Europa sein Stärken ins Spiel bringen, so muss es zudem von einem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und zugleich von einem erweiterten Begriff der Lastenteilung im transatlantischen Verhältnis. So sind beispielsweise Europas entwicklungspolitische Transferleistungen ebenso wie seine Zahlungen zur Stabilisierung Südost- oder Osteuropas zweifelsohne Beiträge zur Sicherheit.33 Ein Mitentscheidungsrecht über den Umgang mit künftigen Krisen und Konflikten wird sich Europa in Washington zwar trotzdem nur sichern können, wenn es begrenzte, aber glaubwürdige eigene Mittel zur Mitwirkung auch bei militärischen Handlungsoptionen besitzt. Solche Mittel zu besitzen, heißt aber nicht, sie auch immer einzusetzen. Es impliziert lediglich, sie als letztes Mittel einsetzen zu können. Dies schafft zugleich die Möglichkeit, deren Einsatz abzulehnen und damit dem Drängen auf eine politische, nicht-militärische Lösung höhere Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch dies geschähe gemeinsam politisch wirksamer. Glaubwürdige militärische Mittel können Europa auch bei autonomem Vorgehen als letztes Mittel dienen, um andere Formen des Konfliktmanagements abzusichern. Sie sind aber kein Selbstzweck und können aufgrund des Charakters der sicherheitspolitischen Restrisiken auch kein vorrangiges Mittel politischen Handelns sein.

Wenn Europa als einheitlicher sicherheitspolitischer Akteur auftreten und seine Stärken wirklich zur Geltung bringen will, dann steht es vor der Herkulesaufgabe einer dreifachen Integration auf dem Wege zu einer wirksamen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Integriert werden müssen

  • erstens die nationalen Sicherheitspolitiken,

  • zweitens die vergemeinschafteten und intergouvernementalen Aspekte der europäischen Zusammenarbeit und

  • drittens die möglichen Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente einer europäischen Sicherheitspolitik aus einem Guss.

Niemand hätte erwarten können, dass es der EU, die erstmals eine eigene Sicherheitspolitik und diese gemeinsam mit vielen Akteuren entwickeln musste, aus dem Stand gelingen würde, innerhalb weniger Monate ein stimmiges Gegenstück zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu entwickeln, die ja schon lange ein einheitlicher Akteur sind. Selbst dort benötigte Condoleezza Rice mit ihrem Team rund 20 Monate zur Erstellung des Dokuments.

Niemand hätte zudem erwarten können, dass die Europäische Union binnen so kurzer Zeit einheitliche "nationale" Interessen formulieren können. Europa hat erst begonnen, sich mit seiner globalen Mitverantwortung für die Gestaltung von Weltordnung wieder zu befassen. Während des Kalten Krieges agierten die westeuropäischen Staaten - nicht zuletzt auf Wunsch und Druck Washingtons - vorrangig in und um Europa.34

Die Europäische Union steht nunmehr vor der Aufgabe, eine ureigene, an den eigenen Stärken, Fähigkeiten und Interessen orientierte Sicherheitspolitik zu entwickeln. Mit Javier Solanas Sicherheitsstrategie mag ein erster Anfang gemacht sein. Weitere Schritte müssen folgen. Europa wird dabei nicht umhin kommen, seine eigenen Interessen zu definieren - als europäische Interessen und nicht als den kleinsten gemeinsamen Nenner der Interessen der europäischen Nationalstaaten. Dies kann nur geschehen, wenn die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Interessen der USA möglichst genau herausgearbeitet werden. Zudem wird es nicht umhinkommen, seine Interessen in Relation zu seinen schon vorhandenen und zu den für die Zukunft wünschenswerten sicherheitspolitischen Wirkinstrumenten zu setzen. Dabei wäre es ein Fehler, ausschließlich oder primär die militärisch dominierten Ansätze Washingtons zu kopieren.

Die Forderungen Washingtons an die Europäische Union, Weltordnung mit den USA vorrangig militärisch zu gestalten, gleichen einer Einladung der amerikanischen National Football League an die Spitzenspieler des Europäischen Fußballs, gemeinsam an Football-Meisterschaften teilzunehmen. Nicht nur, dass der Unterscheidung zwischen Standbein und Spielbein bei beiden Spielen sehr unterschiedliche Bedeutung zukommt - gespielt wird auch nach völlig verschiedenen Regeln. Diese kennt kaum ein europäischer Spitzenfußballer - mithin er wäre voraussichtlich nicht nur ein schlechtes Mitglied im Team, sondern seine Kernfähigkeiten kämen weder zum Tragen noch wären sie in den meisten Fällen überhaupt gefragt.

Europa muss aktiv und asymmetrisch auf seinen vorhanden Fähigkeiten und Stärken aufsetzen. Diese sind vorrangig nicht-militärischer Natur. Nur wenn diese Fähigkeiten aktiv in die Gleichung der transatlantischen Lastenteilung einbezogen werden, kann Europa Washington ein (ge)wichtiger Partner sein.

Folgende Aspekte könnten deshalb im Blick auf die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheitsstrategie hilfreich sein:

  1. Die Europäische Sicherheitsstrategie weist darauf hin, dass Sicherheit die Voraussetzung für Entwicklung sei. Entwicklung ist aber auch eine Voraussetzung für Sicherheit. Daraus ergibt sich: Bislang sind Bedeutung und Rolle der ökonomischen Aspekte in der Europäischen Sicherheitsstrategie unterbelichtet. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Analyse von Krisenursachen als auch im Hinblick auf Ausgestaltung und Einsatz des sicherheitspolitischen Wirkinstrumentariums. Hier sind komplementäre Ergänzungen nötig, will Europa zu einer kohärenten Strategie und zu einem integrierten, effizienten Mitteleinsatz bei der Umsetzung derselben kommen.

  2. Der Verknüpfung, Integration und Zusammenführung aller außen- und sicherheitspolitischen Wirkmittel der Europäischen Union, sowie deren Ausrichtung auf gemeinsam festgelegte Ziele und Prioritäten kommt für die Wirksamkeit und Effizienz der künftigen Sicherheitspolitik Europas allergrößte Bedeutung zu - dies gilt trotz der aus den Komplikationen der Notwendigkeit der dreifachen Integration sicher folgenden Hemmnisse. Leisten die Staaten der Europäischen Union diese Integration nicht, so können sie ihre Stärke im Bereich nicht-militärischen Krisenmanagements nicht zur Geltung bringen und werden zugleich in der Verfolgung ihrer Ziele ineffizient bleiben.

  3. Die EU-Sicherheitsstrategie plädiert für ein frühzeitiges, proaktives, präventives Krisenmanagement mit Vorrang für nichtmilitärische Mittel. Dessen Charakter und die damit verbundene Bereitschaft, potentielle Krisen frühzeitig und rechtzeitig zu identifizieren, damit nichtmilitärische Krisenmanagementkapazitäten ihre Wirksamkeit entfalten können, sollte stärker herausgearbeitet werden. Eine solche Politik impliziert die Bereitschaft zum politischen "Agenda-Setting" - auch auf globaler Ebene und in internationalen Institutionen.

  4. Die Europäische Sicherheitsstrategie macht die Bedeutung und die Rolle nicht-traditioneller, nicht-staatlicher Akteure im Blick auf die sicherheitspolitischen Risiken der Zukunft deutlich. Sie weist aber keinen hinlänglichen Ansatz auf, wie das Verhalten dieser Akteure wirksam und mit den Mitteln (zwischen)staatlicher Politik beeinflusst werden könnte. Einen solchen Ansatz, der über die Forderung nach (zumeist repressiver) Einschränkung der Handlungsfreiheit der nichtstaatlichen Akteure hinausgeht, gilt es zu entwickeln. So müssen z.B. traditionelle Handlungsfelder zwischenstaatlicher Politik wie Proliferationsverhinderung, Export- und Rüstungskontrolle neu ausgerichtet und neue, geeignete Instrumente entwickelt werden.

  5. Eine Sicherheitspolitik aus einem Guss, die die Vorrangigkeit nicht-militärischer Instrumente anerkennt, muss auch von entsprechenden Ressourcen begleitet sein. Nicht nur das Mittel Militär will vorgehalten werden, sondern gerade auch die nicht-militärischen Fähigkeiten des Krisenmanagements. Die EU erkennt dies an, indem sie zivile Krisenmanagementkapazitäten aufbaut. Dieser Prozess bedarf der Stärkung und der Beschleunigung, aber auch der planerischen Harmonisierung mit den Restrukturierungs- und Abbauprozessen im militärischen Bereich, wenn auf die Nutzung möglicher Synergien nicht zugunsten hoher Mehrkosten verzichtet werden soll. Auch hier bietet sich ein ressortübergreifender Ansatz an. Zugleich bedingt diese Umstrukturierung eine Neugewichtung und Neuaufteilung der Ressourcen.

  6. Eine Neugewichtung der Ressourcenverteilung zwischen den zivilen und militärischen Mitteln des Krisenmanagements impliziert, was auch die Haushaltsrealitäten und die haushälterischen Prioritäten in einer sich erweiternden EU diktieren: Für das Mittel Militär wird künftig eher weniger denn mehr Geld zur Verfügung stehen. Dies zwingt zur Nutzung von Einspar- und Rationalisierungspotentialen durch eine zunehmende, angesichts der Charakteristika der Risiken der Zukunft auch sicherheitspolitisch sinnvolle Integration der Streitkräfte in Europa. Nationale Streitkräftereformen sollten wo immer möglich darauf ausgerichtet werden, diese Entwicklung zu antizipieren, also konsequent europäisch ausgerichtet werden.

  7. Der Vorrang der Stärkung der Vergemeinschaftung vor der Stärkung intergouvernementaler Zusammenarbeit muss, wo immer möglich, politisch herausgearbeitet und praktiziert werden. Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann Europa nur entwickeln, wenn der Weg und die Mittel auf das Ziel ausgerichtet bleiben. Zielwidrige Mittel sollten sich von selbst verbieten. Der vorliegende Entwurf einer Europäischen Verfassung genügt dieser Voraussetzung gerade auch im Blick auf die sicherheitspolitischen Aussagen keineswegs. Er ist sogar kontraproduktiv.

  8. Schließlich sollte die Europäische Union bei der weiteren Ausgestaltung ihrer Sicherheitspolitik auch neue ungewohnte Fragen und neue Ansätze in den Blick nehmen. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, dass es sinnvoll sein könnte, sicherheitspolitische Investitionen und Initiativen neu zu gewichten. Das Erste: In schöner Regelmäßigkeit diskutieren Nationalstaaten, ob und wie sie ihre sicherheitspolitisch relevanten industriellen Kernfähigkeiten sichern können und müssen. Gemeint ist dann in aller Regel die wehrtechnische Industrie. Was aber ist die bedeutsamere industrielle Kernfähigkeit für die Zukunft? Jene, binnen kurzer Zeit große Mengen Munition für Gewehre oder Panzer herstellen zu können oder jene binnen kurzer Zeit große Mengen Impfstoff gegen biologische Kampfstoffe produzieren zu können? Das zweite Beispiel: Was stellt eine sinnvollere sicherheitspolitische Investition dar? Milliardeninvestitionen in die auch militärischen Fähigkeit, die Sicherheit der Energieversorgung mit den fossilen Brennstoffen Öl und Gas besser zu gewährleisten oder Milliardeninvestitionen in neue und erneuerbare Energieträger und in neue Energie- und Energiespartechnologien, die Europa unabhängiger von Öl und Gas machen und zur Entspannung auf den Öl- und Gasmärkten beitragen können?



ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

 


 

Fußnoten:

1 In diesem Beitrag werden die Begriffe "Europa" und "Europäische Union" aus Lesbarkeitsgründen über weite Strecken austauschbar benutzt.

2 In dieser grundsätzlichen Analyse treffen sich die Aussagen der Europäischen Sicherheitsstrategie und der nationalen deutschen "Verteidigungspolitischen Richtlinien". Vgl. Europäischer Rat: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel, 12.12.2003 (im Folgenden: ESS) und Bundesministerium der Verteidigung: Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Berlin, 21.Mai 2003

3 Die wesentlichen Grundzüge sind dargelegt in: The White House: The National Security Strategy of the United States, Washington, September 2002; The White House: National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction, Washington, Dezember 2002; The White House: National Strategy for Combating Terrorism, Washington, Februar 2003 und - was deren militärische Seite betrifft, implementiert in: Joint Chiefs of Staff: National Military Strategy of the United States of America 2004, Washington, 2004. Eine lange angekündigte National Defense Strategy des Pentagons lässt weiter auf sich warten.

4 Hinzuweisen ist zudem auf eine Nebenwirkung dieser Entwicklung: Humanitäre Interventionen sind für Regierungen oft Ressourcenverschwendung und mindern die Flexibilität des eigenen Handelns im Sinne des nationalen Interesses, weil sie Ressourcen binden. Zudem kommen sie unliebsamerweise oft auf Druck einer Öffentlichkeit - Stichwort CNN-Faktor - zustande; beides gilt für Interventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen nicht. Die Legitimation solcher Interventionen erfolgt zumeist auf Basis (politisch instrumentalisierbaren) Herrschafts- und Geheimdienstwissens, das auch eine informierte Öffentlichkeit nur selten in der erforderlichen Kürze der Zeit als ggf. unzulänglich oder falsch nachweisen kann. Mithin, beide Legitimationsmuster haben gegenüber der Begründung von Interventionen mit dem Ziel eines Regimewechsels noch einmal erhebliche Vorteile im Blick auf die Öffentlichkeitsarbeit.

5 Nicholas Lehmann: The next World Order, in: New Yorker, 1 April 2002, online verfügbar unter: >http://www.newyorker.com/fact/content/?020401fa_FACT1 (zuletzt eingesehen 10.8.2004)

6 Die Sorge gilt hier nicht nur der bereits praktizierten Proliferation seitens Pakistans, sondern auch der Frage, ob Staaten wie Saudi-Arabien ihre nuklearen Optionen neu bewerten und andererseits den Konsequenzen des zeitweiligen Kontrollverlustes über die nuklearen Materialien des Iraks am Ende des Krieges.

7 Javier Solana: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Europäischer Rat, Tessaloniki, 20.6.2003 (im Folgenden: TESS)

8 Europäischer Rat: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel, 12.12.2003 (im Folgenden: ESS)

9 ESS, S.1

10 Dies geschieht allerdings nicht zum ersten Mal. Als Vorläufer im Rahmen der vormals zuständigen Westeuropäischen Union (WEU) können gelten: Die am 27.Oktober 1987 verabschiedete Den Haager "Plattform Europäischer Sicherheitsinteressen" des WEU-Ministerrates und die am 14.11.1995 vom WEU-Ministerrat in Madrid angenommene Erklärung "Europäische Sicherheit: Ein gemeinsames Konzept der 27 WEU-Staaten".

11 Vgl. Secretary of Defense, Dick Cheney: Defense Strategies for the 1990s: The Regional Defense Strategy, Washington, Januar 1993

12 Diese ergeben sich (a) aus der skeptischeren und stärker am nationalen Interesse ausgerichteten Haltung Washingtons; (b) aus der bevorstehenden Integration von zehn, später 12 neuen Mitgliedsstaaten, die sich erstens teils eigen- teils fremdmotiviert sicherheitspolitisch stärker an Washington bzw. der NATO als an der EU orientieren und zweitens angesichts ihrer erst vor wenig mehr als zehn Jahren (wieder)erlangten vollen nationalen Souveränität einer raschen erneuten Souveränitätsabgabe verständlicherweise eher skeptisch gegenüberstehen (vgl. dazu beispielhaft, weil ernsthaft um Verständnis bemüht: Cornelia Frank: Polnische Sicherheitspolitik - Warschaus Position zur ESVP, AKUF-Arbeitspapier 2-2003, Hamburg, 2003), sowie (c) aus den sich gegenseitig und die Friktionen verstärkenden integrationsbehindernden Tendenzen sowohl des Erweiterungs- als auch des Vertiefungsprozesses (vgl. den Disput um die europäische Verfassung) der EU ergeben. Zu den Implikationen der Verfassungsdebatte vgl.: Catriona Gourlay & Joshua Kleymeyer: The Defense Deal in the IGC, in: European Security Review, No 20, Dezember 2003, S. 1f.

13 Vgl dazu: Patricia Chilton, Otfried Nassauer et.al.: NATO, Peacekeeping and the United Nations, BASIC-BITS Report 94.1, September 1994, insbesondere S.5-13 und 25-29

14 Idee und Konzept selbst sind bereits in der Madrider Erklärung des WEU-Ministerrates aus dem Jahre 1995 enthalten. Vgl. dazu auch: Assembly of the Western European Union, Defence Committee (Rapporteur Mr Gubert): A European Strategic Concept - Defence aspects, Document A/1841, Paris, 1.Dezember 2003

15 In deutlichem Gegensatz dazu spiegelte das bei gleicher Gelegenheit verabschiedete neue Strategische Konzept der NATO weiterhin die klassische Vorstellung der Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität im Kontext der NATO. Das Strategische Konzept wurde anlässlich des Gipfels nicht intensiv diskutiert, sondern in einer Fassung verabschiedet, die aufgrund der Beschäftigung mit der Kosovo-Krise weitestgehend einer mehrere Monate alten Vorlage folgte. Der Wortlaut der Originaldokumente des NATO-Gipfels 1999, auch der Entwürfe, kann unter Verlinkungen eingesehen werden, die unter www.bits.de/CESD-PA/NEWCESDMAIN.html im Abschnitt über das Jahr 1999 zugänglich sind. US-amerikanische Politiker beriefen sich in den Diskussionen nach 1999 regelmäßig auf die Formulierungen des neuen strategischen Konzeptes, europäische auf das Abschlusskommunique, um zu betonen, dass ihre Vorstellungen, Vorhaben und Forderungen im Einklang mit den Beschlüssen der Allianz stünden.

16 Die wesentlichen Dokumente zu diesem Prozess und eine kommentierende Erläuterung sind zusammengetragen unter: www.bits.de/CESD-PA/newcesdmain.html

17 vgl. Catriona Gourlay & Otfried Nassauer: Controversy over EU Access to NATO military capabilities, in: European Security Review, Nr 4, Februar 2001, S.1f. Die Auseinandersetzung um die Frequenzen für die Satellitenortungssysteme GPS (USA) und Galileo (EU) stellt ein weiteres, gutes Beispiel dafür dar, bis in welche technischen Einzelheiten solche Einflussstrategien reichen können. Vgl. Susanne Härpfer: Mogelpackung Galileo, in: Blätter für Deutsche Und Internationale Politik, Heft 9/2003 sowie diess.: Satellitennavigation - Mit Galileo fährt Europa an seinen ehrgeizigen Zielen vorbei, in: Frankfurter Rundschau, 3. Dezember 2003, S.1

18 ausführlicher: Otfried Nassauer: Die NATO Response Force - Präventives Instrument der USA mit europäischer Beteiligung, in: Streitkräfte und Strategien, NDR-Info, 4.Oktober 2003, Manuskript einsehbar unter: www.bits.de/public/ndrinfo/sunds041003

19 Erst mit der Abschlusserklärung des britisch-französischen Gipfels in London: "Strengthening European Cooperation in Security and Defense, 24.November, 2003, in der erweiterte europäische Streitkräfte-Ziele (Headline Goals), die bis 2010 zu implementieren wären, angekündigt werden und mehr noch mit einem undatierten britisch-deutsch-französischen "Food for Thought Paper" mit dem Titel "Capabities Development in Support of EU Rapid Reponse - The Battlegroup Concept" (o.O, o.D.(Anfang 2004)) beginnt europäischerseits ein konkretes, aber doch reaktives Nachdenken, wie NATO-Response Force und die am schnellsten einsetzbaren Teile der europäischen Eingreifkräfte so harmonisiert werden können, dass die Investitionen in entsprechende Fähigkeiten auch der Europäischen Union zugute kommen. Die Ansätze werden gemäß der Beschlüsse des EU-Gipfels im Juni 2004 weiterverfolgt.

20 Dafür mag es zwei zusätzliche Motive bzw. Anlässe gegeben haben: Zum einen den Wunsch, das Dokument mit Zustimmung aller Mitglieder, also auch Dänemarks und der "Neutralen" veröffentlichen zu können und zum anderen die verständliche Skepsis vieler Nichtregierungsorganisationen, gerade auch aus dem Bereich des zivilen Krisenmanagements, gegen potentiell "zweideutige" Formulierungen, mit denen anderen als humanitären Interventionen "Tor und Tür" geöffnet werden könnten. Zugleich darf aber nicht unterschlagen werden, dass es - aus taktischen Gründen und mit völlig unterschiedlichen Begründungen - sowohl im Interesse der Regierungen, die größtmögliche nationale sicherheitspolitische Flexibilität der Bindungswirkung europäischer Integration vorziehen, als auch im Interesse jener, die Offenheit für US-Positionen und Interpretationen wünschen, liegen musste, den Verzicht auf klare Aussagen zu präferieren. Für die weitere Entwicklung der ESVP dürfte sich diese - nur zeitweilig funktionsfähige - taktische Allianz noch als schädlich erweisen.

21 ESS, S.1

22 ESS, S.3-5. Zur Kennzeichnung als Bedrohung siehe auch Kap. 4.1. dieses Beitrags

23 ESS, S. 6-10 Auffällig gegenüber dem Entwurf aus dem Juni ist auch, dass sich nunmehr die Reihenfolge der Ziele verkehrt hat. Die Bedrohungsabwehr rangiert vor Stabilisierung und Multilateralismus. Im Juni rangierte die Stabilisierung vor der Stärkung multilateraler Institutionen und der Abwehr der Bedrohungen..(vgl. TESS. S.6-10)

24 vgl. ESS, S.11 und TESS, S. 12-14

25 vgl. ESS, S. 12-14

26 ESS, S.2

27 TESS, S. 13

28 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Autor weder glaubt, "die Europäer" seien "bessere Menschen" noch der Auffassung ist, die europäischen Staaten würden "weniger Machtpolitik" betreiben als die USA. Dazu gäbe weder das Handeln Deutschlands, noch der ehemaligen europäischen Kolonialmächte den geringsten Anlass. Er glaubt aber an die Chance Europas, die richtigen Lehren aus dieser Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ziehen zu können und im wohlverstandenen Eigeninteresse auf diesen gezogenen Lehren aufzusetzen.

29 Diese Forderung muss unabhängig davon erhoben werden, dass die EU hinsichtlich ihrer bisherigen Verhandlungsergebnisse mit der NATO bereits einige einseitige Souveränitätsverzichte eingegangen ist, sei es aus Unbedachtheit, Unkenntnis oder aus Anpassung an Wünsche der USA.

30 Der Beitritt europäischer Staaten zum Internationalen Strafgerichtshof stellt ein Beispiel dar.

31 Die nebenbei gesagt das grundlegende Funktionsmuster der europäischen Integration darstellt.

32 Er deutet sich vor allem bei jenen Staaten, die sowohl EU- als auch NATO-Mitglieder sind, dadurch an, dass sie aus einem Streitkräftepool ihre Beiträge sowohl zur NATO Response Force als auch zu den European Battlegroups bestreiten wollen und sich deshalb für den Fall einer Verwendung von Streitkräftepaketen im Rahmen einer nationalen oder EU-Operation eine "opt-out-Option" hinsichtlich ihrer Zusage zur Bereitstellung dieser Kräfte für die NRF zusichern ließen.

33 Es ist schwer verständlich, warum dieses Argument in Europa so selten gemacht wird. Interessanterweise wird es in den USA immer wieder einmal genutzt. Vgl. z.B.: General Accounting Office : European Security: U.S. and European Contributions to foster Stability and Security in Europe, GAO-02-174, Washington, November 2001 oder: Congressional Budget Office: NATO-Burdensharing After Enlargement, Washington, August 2001

34 Die Entwicklung einer -oft kritisierten und beklagten - eurozentristischen Betrachtungsweise in vielen westeuropäischen Gesellschaften steht damit in einem unauflösbaren ursächlichen Zusammenhang.