EU und NATO: Unterschiedliche Ziele, Geschwindigkeiten und Räume der Integration
von Christopher Steinmetz
1. Einleitung:
Nach den jüngsten Erweiterungsrunden der NATO und der Europäischen Union ist die
Aufnahme weiterer osteuropäischer Staaten für die nächste Dekade unwahrscheinlich
geworden. Alleine Bulgarien, Kroatien und Rumänien können sich berechtigte Hoffnungen
auf einen EU-Beitritt machen. Damit wurden auch den offiziell mehrfach geäußerten
Erwartungen und Wünschen der ukrainischen Regierung auf eine mittelfristige Einladung zum
Beitritt eine Absage erteilt.
Die Art und Weise der Osterweiterung der NATO und EU verschärft den Druck auf die
ukrainische Politik, die Ziele und Instrumente ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zu
überdenken und gegebenenfalls den neuen Verhältnissen anzupassen. Dies setzt voraus,
dass tatsächlich eine realistische Einschätzung der eigenen Kapazitäten, des eigenen
Handlungsspielraums (auch nach Innen) vorgenommen wird. Ist die Ukraine wirklich bereit,
die von der NATO und EU geforderten Reformen des politischen Systems, der Judikative und
der Ökonomie umzusetzen? Wieviel Zeit wird die Umsetzung der Reformen brauchen? Wird man
am Ende wirklich der NATO und/oder EU beitreten dürfen?
Die letzte Frage verweist auf eine wesentliche Problemstellung für die Formulierung
und Umsetzung einer tragfähigen ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Ukraine
muß zu einer realistischen Einschätzung der Interessen und Möglichkeiten der NATO und
der EU kommen.
Die Interessen der NATO und der EU an einer Osterweiterung bzw. an der Aufnahme neuer
Mitgliedsstaaten divergieren in vielen Aspekten und sind zum Teil gegenläufig. Für die
NATO, als primär militärisches Bündnis, ist der Integrationsraum eine Konsequenz der
Sicherheitsvorsorge und begrenzt - der Verbesserung der militärischen
Interventionsfähigkeit. Für die EU ist der Integrationsraum abhängig von den
ökonomischen und gesellschaftlichen Integrationskapazitäten im Inneren. Potentielle
Beitrittskandidaten laufen Gefahr, durch eine passive Politik zwischen NATO und EU
"aufgerieben" zu werden. Dies gilt auch für die Ukraine. Verhält sie sich
weiter passiv, könnte ihr bald jede wirkliche Gestaltungsmöglichkeit fehlen.
Im folgenden werden die unterschiedlichen strategischen Interessen der NATO und der EU
bezüglich der zukünftigen Rolle der Ukraine kurz durch eine Skizzierung der Entwicklung
des jeweiligen Beziehungsgeflechts dargestellt. Aufgrund der Fokussierung auf die
sicherheitspolitischen Aspekte des Westen wird auf den Faktor Rußland, auf die
Komplexitäten der ukrainischen Innenpolitik und auf die ökonomische Dimension nur am
Rande eingegangen. Im Anschluss wird auf dieser Grundlage eine kurze Einschätzung der
ukrainischen Handlungsoptionen für die Zukunft gegeben.
2. Entwicklung der Beziehungen zur NATO
2.1. Kurzer Rückblick
Inzwischen blicken NATO und Ukraine auf eine zehnjährige gemeinsame Vergangenheit
zurück. Auftakt der Beziehungen war die Unterzeichnung des Partnership for Peace (PfP)
Abkommens 1994. Für die Ukraine war es in erster Linie eine wichtige symbolische
Sicherheitsgarantie. Die NATO erklärte sich bereit, die Souveränität und territoriale
Integrität der Partnerstaaten zu unterstützen. In diesem Sinne erfüllte PfP die
Funktion einer vertrauensbildenden Maßnahme und war ein erstes Forum zur Diskussion von
sicherheitspolitischen Fragen. Es unterstützte den Ablösungsprozess von Rußland.
Allerdings hatte das PfP-Programm auch eine handfeste militärische Komponente. Es
sollte die Ukraine bei der notwendigen Streitkräftereform unterstützen. Neben dem Umbau
der Kommando- und Befehlsstrukturen ging es vor allem um die militärische Ausbildung und
Herstellung der Interoperabilität. In den Augen der NATO sollte damit die spätere
Integration in das Bündnis erleichtert werden. Ein weiteres erklärtes Ziel der NATO war
die "Demokratisierung der Streitkräfte". Mit dieser sollten die Führungskader
auch die westlichen politischen Werte und Ziele übernehmen. Während aber im Bereich der
militärischen Ausbildung und Strukturreform einige Fortschritte erzielt wurden,
stagnierte die gesellschaftliche Dimension der Streitkräftereform.
Die in Madrid 1997 vereinbarte Charta über eine besondere Partnerschaft zwischen der
NATO und Ukraine war in gewisser Weise die logische Konsequenz des ungelösten Spagats
zwischen den Interessen der Ukraine an symbolischer Partnerschaft auf Augenhöhe sowie
finanzieller Unterstützung für das Verteidigungsministerium und den Interessen der NATO
an einer konkreten Streitkräftereform. Im Zuge von Madrid wurde eine Gemeinsame
Arbeitsgruppe zur Militärreform eingesetzt, die tatsächlich einige Fortschritte erzielte
bei der Transparenz in der Ukrainischen Armee und der Modernisierung. Im Gegenzug erhielt
die Ukraine Zugang zu den NATO-Ausschüssen und wurde in Konsultationsprozesse
eingebunden.
Das Jahr 1999 markierte dann einen Tiefpunkt in den Beziehungen der Ukraine zur NATO.
Die ukrainische Regierung kämpfte mit einer Wirtschaftskrise und die Wahlen standen vor
der Tür. Die NATO Intervention im Kosovo "Operation Allied Force" demonstrierte
zudem deutlich, wie eingeschränkt der Einfluss der Ukraine in der NATO war.
Als daher die NATO auf dem Gipfel in Washington ihr neues strategisches Konzept
verabschiedete und die Aufnahme weiterer PfP-Staaten in Aussicht stellte, war die Ukraine
nicht dabei. Von der Konzipierung des Beitrittsprozesses her hatte die NATO ohnehin hohe
Hürden durch den Membership Action Plan (MAP) errichtet. Ein wichtiges Merkmal war die
Miteinbeziehung nicht-militärischer Reformbereiche, wie z.B. die Judikative und
Wirtschaftspolitik.
In den nächsten Jahren zeigte sich allerdings, dass aufgrund der Neudefinition der
NATO auch als Interventionsbündnis, die aktive Teilnahme von Kandidatenstaaten an
NATO-Einsätzen höher bewertet wird, als die Erfüllung der gesellschaftlichen Reformen.
Die Ukraine beschleunigte die formale Umsetzung der nächsten Schritte. Das im Jahr 2000
ratifizierte PfP Status of Forces Agreement sicherte den Status von NATO-Soldaten in der
Ukraine. Die Ukraine beschloss als Teil der Streitkräftereform bis 2005
Krisenreaktionskräfte für sogenannte "low-intensity" Konflikte aufzustellen.
Die ukrainischen Streitkräfte beteiligten sich an KFOR.
Parallel zum NATO-Erweiterungsbeschluss bezüglich der MAP-Staaten wurde 2002 in Prag
der NATO-Ukraine Action Plan vereinbart. Die bisherige Zusammenarbeit wurde den neuen
Verhältnissen angepasst. Dieser "Action Plan" ist im wesentlichen identisch mit
den MAP mit Ausnahme eines Beitritts-Automatismus bei erfolgreicher Umsetzung der
Planungsziele. Der "Action Plan" mahnt weitreichende Reformen in der Ukraine an:
Demonopolisierung der Politik und Ökonomie und eine Veränderung der Beziehungen zwischen
Staat und Bürger. Gleichzeitig belegt er die neue pragmatische, von machtpolitischen
Interessen geleitete Herangehensweise der NATO. Neben der Fortführung der
Streitkräftereform soll die Ukraine sich auch stärker militärisch engagieren, z.B. bei
KFOR aber auch in Rahmen des regionalen GUUAM-Sicherheitsbündnisses. Auf der
sicherheitspolitischen Ebene wünscht die NATO einen Beitrag im Kampf gegen den
Terrorismus (Gewährung von Überflugrechten, Verbesserung der Rüstungskontrolle und
Unterbindung von illegaler Migration) und eine Festlegung der Grenzen zu Rußland, vor
allem im Schwarzen Meer.
Im Zuge des "Action Plans" wurde ein Memorandum of Understanding zum Host
Nation Support Statut unterzeichnet und die Ukraine beteiligte sich auch am Irak-Krieg,
u.a. durch Entsendung eines ABC-Abwehrbataillons nach Kuweit und Gewährung von
Überflugrechten für NATO-Staaten.
2.2. Bilanz
Insgesamt ist die Entwicklung des Verhältnisses zur NATO aus Sicht der Ukraine hinter
den geäußerten Erwartungen zurückgeblieben. Die NATO hat kein Beitrittsversprechen
gegeben. Die Ende 2003 von den NATO Außenministern angeführten Vorbehalte lassen dies
auch für die nächste Zeit nicht erwarten. Sie forderten von der Ukraine Fortschritte in
folgenden Bereichen: freie Wahlen, freie Medien, Stärkung der Zivilgesellschaft, der
Judikative und der Rechtsstaatlichkeit, sowie eine Verbesserung der
Rüstungsexportkontrolle.
Die NATO hat sich alle Optionen offen gelassen um die Beitrittschancen via der
verlangten demokratischen Reformen zu verzögern oder im Zweifelsfall aus militärischen
oder politischen Gründen zu beschleunigen. Vieles deutet darauf hin, dass die NATO weiter
an einem Sonderverhältnis zur Ukraine interessiert ist. Schließlich hat die NATO einige
übergeordnete Ziele bezüglich der Ukraine schon erreicht:
- Der NATO ist es gelungen, die Ukraine militärisch und sicherheitspolitisch
weitestgehend aus dem engeren Einflussbereich Rußlands herauszulösen. Die Ukraine bildet
militärisch eine neutrale Pufferzone.
- Die Ukraine ist 1994 dem NPT beigetreten und hat seitdem die sowjetischen Atomwaffen und
Trägersysteme rücküberführt oder zerstört.
- Die Ukraine hat sich bereit erklärt, das neue Strategische Konzept der NATO zu
unterstützen und einen eigenen militärischen Beitrag für Interventionseinsätze zu
leisten.
Dazu kommen noch eine Reihe von nachgeordneten Interessen der NATO (und der USA):
- Für die Zukunft besteht nach wie vor die Möglichkeit einer Stationierung von
NATO-Einheiten, die eine bessere "Power Projection" der NATO-Macht über das
Schwarze Meer und die Kaukasus-Region erlauben würde.
- Auch eine neutrale Ukraine als NATO-Partner erlaubt die Kontrolle wichtiger
Energietransportwege und die Überwachung der Aktivitäten der russischen
Schwarzmeerflotte auf der Krim-Halbinsel.
- Langfristig wird die Kooperation mit der NATO vor allem im Bereich der Modernisierung
und Herstellung von Interoperabilität die Marktchancen westlicher Rüstungskonzerne in
der Ukraine verbessern.
2.3. Ausblick
Vier Faktoren werden wahrscheinlich die weitere Entwicklung der Beziehung der NATO zur
Ukraine prägen. Die ukrainische Regierung sollte daher überlegen, welchen Einfluss sie
auf die Faktoren nehmen kann und will.
Der wichtigste Faktor ist der Stellenwert, den die USA einer von Rußland unabhängigen
und kooperationsbereiten Ukraine beimisst. Seit der Unterzeichnung des Military Support
Agreements 1993 hat sich die USA direkt an der Finanzierung des (militärischen)
Transformationsprozesses beteiligt und den politischen Apparat dadurch eingebunden. Soweit
es ging, hat sich die USA dabei auch des Umweges über die NATO-Strukturen bedient. Noch
mehr als bisher wird die USA auch über die NATO auf eine aktive militärische Beteiligung
der Ukraine am sogenannten "Kampf gegen den Terrorismus" dringen.
Zweiter Faktor ist der diskrete Machtkampf innerhalb der NATO zwischen den
europäischen Staaten, die eine stärkere sicherheitspolitische Rolle der EU befürworten,
und den USA. Die "Europäer" könnten der Aufnahme weiterer
"pro-amerikanischer" Staaten ablehnend gegenüber stehen. Außerdem könnten die
EU-Staaten versuchen, indirekt eine Aufnahme der Ukraine in die NATO zur Vorbedingung
einer EU-Mitgliedschaft zu machen und im parallel dazu den Maßnahmenkatalog des NATO
Action Plans sehr umfassend auszulegen.
Ein dritter Faktor ist die weitere Entwicklung der Beziehungen der Ukraine zu den
NATO-Nachbarstaaten. Vor allem sie sind es, die innerhalb der NATO-Strukturen für eine
Intensivierung der Beziehungen zur Ukraine werben können und entsprechende
Kooperationsprogramme initiieren können.
Der vierte Faktor ist die Entwicklung des Verhältnis zwischen der NATO und Russland.
Letzen Endes war die Bedeutung der Ukraine für die NATO immer eine Folge der Beziehungen
der NATO zu Rußland. (Gleiches gilt im übrigen für die Interessen der USA.) Wichtige
Vereinbarungen mit der Ukraine wurden erst umgesetzt nachdem NATO und Rußland ähnliche
Schritte vereinbart haben. Bis 2001 hatte die ukrainische Regierung von dem schwierigen
Verhältnis zwischen beiden profitiert. Seit den terroristischen Anschlägen in den USA
vom September 2001 haben sich die Beziehungen zwischen Russland und der NATO erheblich
entspannt. Die USA und Russland haben beim Krieg gegen den Terrorismus eine Reihe von
Gemeinsamkeiten entdeckt. Je mehr Russland zu einem aktiven Partner wird, desto mehr wird
die Bedeutung der Ukraine schwinden.
3. Entwicklung der Beziehungen zur EU
3.1. Kurzer Rückblick
Eine Darstellung der bisherigen Entwicklung der sicherheitspolitisch relevanten
Beziehungen der Ukraine zur Europäischen Union (EU) fällt vergleichsweise kürzer aus.
Erst seit 1998 werden sicherheitspolitische Fragestellungen explizit von den
Entscheidungsstrukturen der EU bearbeitet. Davor verfolgte die Europäsche Union eher eine
allgemeine auf regionale Stabilität orientierte Außenpolitik.
Der Rahmen für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine wurde durch das 1994
vereinbarte Partnership Cooperation Agreement (PCA) abgesteckt, welches erst 1998 in Kraft
trat. Das PCA ist symbolisch für die gesamte Schwerfälligkeit der Beziehung. Es verfolgt
einen technokratischen Ansatz und beschäftigt sich vorwiegend mit ökonomischen Aspekten.
Für den politischen Dialog waren nur die jährlichen Treffen des Kooperationsrates und
eines entsprechenden Ausschusses des Europäischen Parlaments vorgesehen.
Eine EU-Mitgliedschaft wurde der Ukraine nie in Aussicht gestellt. Der ökonomische und
demokratische Reformaufwand wurde als zu erheblich eingestuft. Stattdessen wurde indirekt
von der EU bereits ein Sonderverhältnis zur Ukraine zementiert. De facto wurde die
Ukraine eher der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zugerechnet sprich dem
Einflussbereich Russlands. Entsprechend stagnierten die Beziehungen. Die EU beharrte auf
Erfüllung aller Punkte und die ukrainische Regierung sah nicht den Mehrwert der
tiefgreifenden Reform ohne die Aussicht auf einen Beitritt.
Allerdings gewinnt der Dialogprozess seit 1998 an Dynamik. Vor allem die EU scheint
ihre Strategie zu überdenken und eine klarere Position einzunehmen. Ein Grund ist mit
Sicherheit die wachsende Relevanz der ESVP für den europäischen Integrationsprozess und
damit zwangsläufig auch die Notwendigkeit ein "Außen" zu definieren.
Folgerichtig wurde Ende 1998 von der EU beschlossen Gemeinsame Strategien für Russland,
Ukraine und die südlichen Mittelmeerstaaten zu erarbeiten. Die EU ging dazu über in
Teilbereichen eine intensivere Kooperation anzustreben, wie z.B. bei der Migration und
Grenzkontrolle.
Mit der Ende 2002 und Anfang 2003 entwickelten Konzeption einer neuen
Nachbarschaftsstrategie "Wider Europe New Neighbourhood" versucht sich
die EU nun mit einer differenzierteren Herangehensweise. Die Ukraine gilt nun als
"Western Newly Independent State" und wird damit nicht mehr in einen Topf u.a.
mit den zentralasiatischen GUS-Staaten geworfen. Die Kooperation im ESVP wird vorsichtig
aufgenommen. 2002 haben die EU und die Ukraine eine Vereinbarung über die Entsendung
eines ukrainischen Liason-Offiziers zum EUMS getroffen. Die Ukraine hat sich auch im Jahr
2003 mit fünf Polizisten an der Polizeimission der EU in Bosnien beteiligt.
3.2. Bilanz
Auch die Entwicklung der Beziehungen zur EU ist aus ukrainischer Sicht weit hinter den
Erwartungen zurückgeblieben. Ein Beitritt zur EU ist auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.
Obwohl die ukrainische Regierung wiederholt betont hat, dass EU-Integration vorrangig sei,
hat sie wenig in diese Richtung unternommen Die Divergenz zwischen den ökonomischen und
politischen Vorgaben und der Realität in der Ukraine ist groß geblieben. Außerdem:
Obwohl die Europäische Union die Festlegung einer endgültigen Außengrenze der EU
theoretisch offen lässt, war und ist ihr vorrangiges Ziel, den bisherigen inneren
Integrationsprozess erfolgreich abzuschließen. Und die Gesamtbelastungen der jetzigen
EU-Erweiterungsrunde sind noch nicht abzusehen. Daher war die EU schon mit einer stabilen
Ukraine zufrieden, die auch als eine wirtschaftliche Pufferzone zu Russland dient.
3.3. Ausblick
Neben dem Primat einer erfolgreichen inneren Konsolidierung nach der zweiten
Erweiterungsrunde werden u.a. folgende Faktoren wahrscheinlich die zukünftigen
Beziehungen der EU zur Ukraine bestimmen:
Erstens wäre der wachsende Stellenwert der ESVP für die Europäische Union zu nennen.
Viel wird davon abhängen in welchem Ausmaß die EU-Staaten als eigenständiger Akteur und
unabhängig von den USA und der NATO auftreten wollen. In diesem Fall würden sie
mittelfristig Partnerstaaten an den Außengrenzen benötigen, die die EU diplomatisch und
militärisch unterstützen können. Die Ukraine könnte stabilisierende Wirkung bis in den
Transkaukasus entfalten.
Zweitens werden die Interessen der EU-Nachbarstaaten an der Ukraine die Beziehungen
beeinflussen. In den jeweiligen Grenzregionen haben sich rege Kontakte und
Wirtschaftsstrukturen ergeben, deren Fortdauern im Interesse dieser Staaten liegt. Über
Ausnahmeregelungen bezüglich der Ukraine könnte eine engere Anbindung erreicht werden,
die wiederum zu einem späteren Zeitpunkt den Beitritt erleichtern könnte.
Drittens wird das wachsende strategische Interesse der EU an diversifizierten
Energietransportrouten und Bezugsquellen aus dem Osten die Beziehungen beeinflussen.
Viertens ist nach wie vor das Verhältnis der EU zu Russland ein wichtiger
Bestimmungsfaktor. Bis 2002 scheint die EU die Ukraine weitestgehend im Rahmen ihrer
"Russland-Politik" behandelt zu haben. Ähnlich wie die NATO hat auch die EU in
der Regel zuerst mit Rußland Vereinbarungen getroffen. Erst dann traten Abkommen mit der
Ukraine in Kraft. Ein weiterer Ausbau der Beziehungen zu Russland, auch im
sicherheitspolitischen Bereich, könnte für die Ukraine die Chancen auf eine engagierte
Zusammenarbeit reduzieren.
4. Herausforderungen für die Ukraine / Zukunft der Beziehungen
Sowohl EU als auch NATO haben die meisten realistischen Ziele bereits durch den
unverbindlichen Dialogprozess mit der Ukraine erreicht. Damit besteht wenig Anlass für
beide, der Ukraine mittelfristig einen Beitritt in Aussicht zu stellen. Zu Fragen der
regionalen Stabilität und Sicherheit werden die EU und die NATO den direkten Kontakt mit
Russland suchen und sich über die Ukraine hinweg einigen. Umgekehrt heißt dies für eine
ukrainische Regierung, dass es sich nur bedingt lohnt, auf eine Änderung der NATO- und
EU-Vorgaben hinzuarbeiten. Entweder ist die ukrainische Regierung also bereit, sämtliche
Vorgaben zu erfüllen und der Erfüllung zur Priorität zu erklären, oder sie muß
eigenständige tragfähige Alternativen und Initiativen entwickeln.
Rückblickend erscheint die Außen- und Sicherheitspolitik der Ukraine als zu passiv.
Eigene Vorstellungen wurden selten formuliert und wenn, schienen sie mehr eine Konsequenz
innenpolitischer Entwicklungen und von Eliteninteressen zu sein. Bei einem Verharren in
dieser Rolle könnte der Ukraine ein ähnliches Schicksal wie der Türkei drohen, die sich
trotz aller öffentlichen Statements in einer ewigen Warteschleife zu befinden scheint.
Die Ukraine könnte allerdings versuchen, aus den Erfahrungen der Türkei zu lernen und
im Gegenzug für ein Ruhen der Beitrittsambitionen Zugeständnisse in Teilbereichen zu
erreichen. Außerdem sollte die Ukraine gezielt andere Staaten als Kooperationspartner in
einigen Bereichen suchen, um dann auch gegenüber der EU oder Russland eine bessere
Verhandlungsposition zu besitzen. All dies setzt allerdings voraus, dass im Inneren
demokratische Formulierung und eine klare, transparente Vermittlung dieser
außenpolitischen Ziele stattfindet. Nur so vermeidet der Staat eine
innergesellschaftliche Enttäuschung und bleibt nach Außen handlungsfähig.
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter bei BITS und freier Journalist.
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