Streitkräfte und Strategien - NDR info
26. Juni 2004


Teil-Souveränität für den Irak – Trotzdem kein Ende des Chaos in Sicht

Otfried Nassauer

Am 30. Juni erhält der Irak seine Souveränität zurück. Genauer: Eine Übergangsregierung bekommt formal die Souveränität und die Kontrolle über wirtschaftliche, finanzielle und natürliche Ressourcen des Landes. Sie soll binnen sechs bis sieben Monaten mit Hilfe der UNO Wahlen zu einer nationalen Versammlung vorbereiten. Diese soll - wiederum binnen etwa eines halben Jahres - eine dauerhafte Verfassung ausarbeiten, die die derzeitige, von der schiitischen Mehrheit abgelehnte Interimsverfassung ablöst. Auf Basis der neuen Verfassung soll dann Ende 2005 eine Volksvertretung und eine neue gewählte irakische Regierung entstehen.

Die zivile Verwaltungsbehörde der Besatzungsmächte unter ihrem Leiter Paul Bremer wird aufgelöst. Weiter bestehende Teilfunktionen werden in eine neue, große US-Botschaft in Bagdad überführt.

In einer jüngst verabschiedeten Resolution des UN-Sicherheitsrates wird den Besatzungstruppen das Mandat erteilt, für zunächst ein weiteres Jahr die Sicherheit im Irak zu gewährleisten, beim Aufbau irakischer Sicherheitskräfte mitzuwirken und den Terrorismus zu bekämpfen. Die UNO fordert zugleich ihre Mitgliedsstaaten auf, sowohl zum Wiederaufbau des Landes als auch zu dessen Sicherheit mit Geld und Truppen beizutragen.

Die reale Macht im Irak bleibt aber weiterhin bei Strukturen, deren Handeln Washington kontrollieren oder dominieren kann: Die irakische Übergangsregierung entspricht weitgehend dem irakischen Regierungsrat, den die USA während der Besatzung zusammenstellten.

Entscheidende Kontrollfunktionen verbleiben noch auf Monate bei Verantwortlichen aus den USA – so zum Beispiel die Stellen, die darüber befinden, ob Firmen ihre Aufträge erfüllt haben und wie viel Geld Ihnen zusteht. Wesentliche Entscheidungen gegen den Willen Washingtons sind von der neuen Regierung auch deshalb nicht zu erwarten, weil sie finanziell von den USA abhängig ist.

Die irakische Regierung kann kein Veto gegen die militärischen Aktivitäten der ehemaligen Besatzungstruppen einlegen. Sie kann diese lediglich auffordern, das Land zu verlassen. Eine echte Handlungsoption ist das natürlich nicht. Wer sollte denn die Sicherheit - auch der Mitglieder der irakischen Regierung - sonst gewährleisten? Eine mögliche Aufforderung, das Land zu verlassen, würde sich zudem künftig an eine Truppe mit UN-Mandat richten und nicht mehr an eine Besatzungsarmee.

Zwar geht die Souveränität nur formal und nicht real auf die neue Machtsstruktur über. Doch die politische Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg der notwendigsten politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbauvorhaben liegt jetzt formal und real bei der neuen Regierung und ihren UN-Beratern: Schlagen die Bemühungen fehl, so können dafür künftig Iraker und UNO mitverantwortlich gemacht werden - auch durch Washington. Ein argumentatives Spiel um den "Schwarzen Peter" ist vorgezeichnet.

Denn die geschilderten Planungen, die Washington sich scheinbar heftig widerstrebend bei den Vereinten Nationen abringen ließ, sind im günstigsten Fall zu optimistisch, im ungünstigsten Fall wissentlich illusionär. Denn der von den USA vorgezeichnete Weg wird von der wichtigsten Bevölkerungsgruppe, den Schiiten, nicht wirklich mitgetragen. Auch die Kurden hegen tiefe Skepsis. Die Übergangsregierung wird von vielen Irakern eher als Marionettenregierung denn als Interessenvertretung betrachtet. Manche lehnen sie offen ab und wollen sie bekämpfen. Die Sicherheitslage im Lande ist weiterhin schlecht. Der infrastrukturelle und wirtschaftliche Wiederaufbau hängt nicht nur weit hinter allen Zeitplänen zurück, sondern lässt auch den wichtigsten Erfolg missen - eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Anschläge, Sabotageakte, mangelnde öffentliche Sicherheit und hemmungslose Profitmacherei der beauftragten Firmen tragen dazu gleichermaßen bei. Warum also sollte man glauben, dass die Entwicklung künftig den optimistischen Prognosen aus Washington folgen wird? Nur weil formal mehr Verantwortung bei Irakern und der internationalen Gemeinschaft liegt?

Im Gegenteil: Der mangelnde Stabilisierungs- und Wiederaufbauerfolg des vergangenen Jahres und der wiederholte, rasche Pferdewechsel hinsichtlich der amerikanischen Taktik, lässt die Frage aufkommen, ob auch diese jüngste Veränderung der Haltung Washingtons nicht lediglich ebenfalls ein solcher Wechsel ist. Ein Pferdewechsel mit Blick auf die amerikanischen Wahlen. Viele Beobachter sind verunsichert und verhalten sich deshalb abwartend. Fast immer, wenn Washington bisher Fehler eingestehen musste, folgten kleine, schadensbegrenzende Schuldbekenntnisse, taktische Korrekturen oder manchmal auch ein fast beleidigtes Drohen mit dem völligen Rückzug aus der selbstverursachten Misere. Zu einer echten Kurskorrektur - wie von Nahostfachleuten immer wieder gefordert - ist es dagegen nie gekommen. Die ideologisch fundierte Grundlinie wurde aufrechterhalten.

Im Blick auf die Situation nach den Wahlen in den USA wirft dies Fragen auf: Verliert Bush, so wird ihm zugetraut, das schwierige Erbe seines Nachfolgers weiter zu erschweren. Gewinnt er, so rechnen viele mit einer Rückkehr zur harten, machtpolitisch unilateralen Linie. Diese explosive Mischung führt aus Verunsicherung zu Vorsicht und Zurückhaltung. Vorsicht auch vor dem eigenen Engagement, der eigenen Involvierung im Irak.

Das zeigt auch die geringe Resonanz auf die Forderung Washingtons, die NATO solle den heute polnischen Sektor im besetzten Irak übernehmen. Sie lässt sich offenbar nicht durchsetzen. Trotzdem hegen die USA weiter den Wunsch, die Allianz möge auf dem bevorstehenden NATO-Gipfel in Istanbul ein stärkeres Engagement beschließen.

Denn auch US-Verteidigungsminister Rumsfeld kennt jene Studie des Haushaltsbüros des US-Kongresses, die vorrechnet, dass Washington langfristig nur 38 bis 64.000 Soldaten im Irak aufrechterhalten kann, wenn es seine Möglichkeiten nicht einschränken will, auf andere Krisen militärisch zu reagieren. Der Pentagonchef weiß auch, dass das heutige Streitkräfteniveau im Irak - 150.000 US-Soldaten plus rund 38.000 Soldaten aus anderen Nationen - nur aufrechterhalten werden kann, wenn er mit viel Geld neue US-Verbände aufstellt. Lastenteilung mit Bündnispartnern muss ihm deshalb als ideale Lösung erscheinen. Das gilt verstärkt, da sich die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen im und um den Irak in den letzten Monaten eher verschlechtert haben.

Im Irak haben radikale schiitische Gruppen ihre zunächst abwartende Haltung aufgegeben und stehen jetzt zum Teil im offenen Widerstand gegen die Politik Washingtons. Damit können sie in der Bevölkerung zunehmend Zustimmung gewinnen und so moderatere Schiiten zu einer deutlicheren Opposition zwingen. Das lässt sogleich die Kurden fürchten, dass es längerfristig zu einer Auseinandersetzung mit den Schiiten um Machtpositionen und kurdische Minderheitsprivilegien im Irak kommt. Vorsichtig bauen sie schon jetzt ihre Position im Norden aus. In der Region um Kirkuk kann beispielsweise beobachtet werden, dass unter Saddam vertriebene Kurden zunehmend nun ihrerseits arabische Sunniten vertreiben. Erste Gerüchte tauchen auf, dass Israel kurdische Peschmergas des Kurdenführers Barzani militärisch ausbildet, weil man auch in Jerusalem nicht glaubt, dass Washington den selbstgewählten Spagat durchhalten kann. Bleibt es aber nicht beim militanten sunnitischen und begrenzten schiitischen Widerstand, sondern eskaliert der Konflikt auch in den schiitischen und kurdischen Gebieten, dann bedarf es zu einer Stabilisierung künftig eher mehr als weniger Soldaten.

Signale der weiteren Destabilisierung zeichnen sich auch um den Irak herum ab: Der syrische Präsident Assad regiert seit Monaten mit harter Hand und massiver Repression gegen die Kurden im Norden seines Landes. In der Türkei kommt es seit Anfang Juni vermehrt zu Kämpfen der Armee mit der ehemaligen PKK – diese hat ihren seit Jahren geltenden einseitigen Waffenstillstand aufgekündigt. Hinzu kommen die verschärften Spannungen mit dem Iran sowie die Gewissheit, dass jene, die den Irak als heiliges Territorium von Ungläubigen befreien wollen, die Kämpfe nicht freiwillig einstellen werden.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).