Streitkräfte und Strategien - NDR info
17. April 2004


Machtinstrumente einer Hegemonialmacht - Das künftige strategische US-Waffenarsenal

Otfried Nassauer

"Umrüsten, um nicht abrüsten zu müssen", so könnte man auf den ersten Blick meinen, sei das Motto für die Arbeit an dieser Studie gewesen. Denn etliche Vorschläge, die die hochrangigen Berater dem Pentagon unterbreiten, vermitteln den Eindruck, als solle künftig all das konventionell weitergenutzt werden, was an strategisch-nuklearen Fähigkeiten nicht länger gerechtfertigt werden kann: 50 schwere MX Peacekeeper-Raketen sollen nicht wie bisher vorgesehen, ganz abgebaut, sondern mit konventionellen Sprengköpfen an neuem Ort wieder aufgestellt werden. Alle seegestützten Marschflugkörper sollten konventionalisiert werden. Gleiches gelte für die heutigen luftgestützten Marschflugkörper, sobald ein nuklearer Nachfolger in Auftrag gegeben sei. Statt bisher vier sollen sechs strategische Atom-U-Boote zu konventionellen Waffenträgern umgerüstet werden. Geprüft werden soll außerdem, ob man die neue, viel zielgenauere Version der atomaren U-Boot-Rakete Trident-D-5 auch konventionell einsetzen kann.

Empfohlen wird aber auch, bis 2012 eine neue, seegestützte konventionelle Mittelstreckenrakete mit etwa 2.700 km Reichweite zu entwickeln, die Sprengköpfe mit einem Gewicht von rund 1 Tonne und einer Zielgenauigkeit von etwa 5 Metern tief ins Innere von Kriegsgebieten tragen kann. Spätestens hier wird deutlich: Es geht keineswegs allein um eine Umrüstung. Es geht um ein verändertes Verständnis strategisch-offensiver Fähigkeiten und strategischer Schläge. Der nuklear-strategischen Komponente soll eine konventionelle hinzugefügt werden. Künftigen US-Präsidenten soll eine Wahlmöglichkeit gegeben werden, bei Regional-Konflikten oder bei der Bekämpfung von "Schurkenstaaten" bzw. Terroristen mit konventionellen oder atomaren strategischen Mitteln agieren zu können.

Die Autoren der Studie haben die potentiellen Gegner für strategisch offensive Schläge in zwei Hauptgruppen unterteilt: Zum einen in "dringliche" Bedrohungen wie "Schurkenstaaten und Terroristen" und zum anderen in "größere gegnerische Mächte mit Massenvernichtungswaffen".

Bei größeren Mächten müsse auch künftig weitgehend in den traditionellen Kategorien der nuklearen Abschreckung und Eskalationskontrolle gedacht werden. Hier gelte es, das Verhalten der politischen und militärischen Führungen in diesen Ländern zu beeinflussen, nicht aber in erster Linie, ihre Führer zu eliminieren. Als größere Macht wird eingestuft, wer in der Lage ist, mit seinen Atomwaffen das künftige Raketenabwehrsystem der USA zu überwinden. Ist dies nicht der Fall - Zitat - "dann können wir dieses Land in dieselbe Kategorie einstufen wie Schurkenstaaten (....), deren Massenvernichtungswaffen die USA mit akzeptablem Risiko neutralisieren können".

Bei Schurkenstaaten und Terroristen wird dagegen in Kriegführungskategorien gedacht: Es gelte, deren Massenvernichtungswaffen "zu eliminieren, das gegnerische Regime zu beseitigen, aber das Land zu erhalten, (sowie) den Krieg mit Massenvernichtungswaffen schnell zu beenden". Wörtlich: "Wenn (wir) einen strategischen Schlag gegen Schurkenstaaten oder Terroristen durchführen, ist es die Aufgabe, die Führung selbst zu töten." Also Enthauptung und Entwaffnung.

Mit Blick auf beide Gruppen potentieller Gegner sei die Bedrohung nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit vorherzusagen wie während des Kalten Krieges. Deshalb seien strategische Offensivfähigkeiten nur zu planen, wenn man sich an den für notwendig oder wünschenswert erachteten eigenen Fähigkeiten orientiere. Die Studie sieht die US-Streitkräfte für die kommenden 25 Jahre gut gerüstet, um größere Mächte abzuschrecken.

Defizite gebe es dagegen für den Umgang mit Schurken und Terroristen. Die Mängel erstreckten sich von den Bereichen "Aufklärung, Führung und Schadensanalyse", über den Bereich "strategische Trägersysteme" bis hin zu "Waffen und Waffenladungen". Daraus abgeleitet werden Forderungen nach einer Vielzahl neuer Waffen und Technologien. Einmal eingeführt dürften sie zugleich auch gegen jede "größere Macht" einsetzbar sein.

Es ist eine besondere Herausforderung, bei der Bekämpfung von Bedrohungen auf strategischer Ebene genauso flexible Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, wie sie auf taktischer Ebene bereits jetzt vorhanden sind. Voraussetzung dafür ist die Errichtung global vernetzter Aufklärungs-, Führungs-, Kontroll- und Schadensanalysekapazitäten, so dass letztlich alle konventionellen und nuklearen, offensiven und defensiven strategischen Fähigkeiten der USA integriert werden können. Geschehen soll das unter einheitlicher Verantwortung des Strategic Command. Dieses Kommando soll dem Präsidenten künftig im Konfliktfall konventionelle, nukleare oder gemischte Handlungsoptionen vorlegen können.

Wer jederzeit und überall effizient gegen so verschiedene Ziele vorgehen will, wie beispielsweise tief verbunkerte Anlagen, Depots oder Produktionsanlagen für chemische und biologische Waffen, mobile Raketenabschussrampen oder durchs Hochgebirge reitende Al Qaida–Führungsmitglieder, der braucht wahrlich eine Vielzahl strategischer Fähigkeiten.

Die Studie rät im nuklearen Bereich, das gegenwärtige Programm zum Erhalt der Einsatzfähigkeit von Atomwaffen neu auszurichten. Es halte zu viele relativ große Atomsprengköpfe in Dienst. Diese würden massive Kollateralschäden anrichten und seien deshalb kaum einsetzbar. Dies gelte auch für die in Europa stationierten Nuklearwaffen. Für sie gebe es keine objektive militärische Notwendigkeit mehr. Es gelte, sich auf Waffen zu konzentrieren, die "für die künftige Bedrohungsumgebung relevanter sind", darunter ganz neue Nuklearwaffen. Manche der heutigen Atomwaffen könnten außer Dienst gestellt werden. Bei anderen könne die Sprengkraft reduziert werden, indem der nukleare Hauptsprengsatz ausgebaut und als Waffe nur der atomare Zündsprengsatz verwendet werde. Die Weiterentwicklung vorhandener Atombomben zu robusten Bunkerknackern sei richtig. Zugleich gelte es, neue Waffen zu entwickeln, insbesondere einsetzbare Atomwaffen mit kleiner und kleinster Sprengkraft – Mini-Nukes. Die könne man nutzen, wenn nur wenig oder gar kein nuklearer Fallout entstehen darf. Die Berater empfehlen auch, die Entwicklung von Atomwaffen mit spezifischen Wirkungen wieder aufzunehmen, z.B. Systeme mit erhöhter Strahlungswirkung – besser bekannt als Neutronenwaffen.

Hinsichtlich der Nutzlasten gilt: Nukleare Fähigkeiten sollten durch konventionelle ergänzt werden. Die Arbeit an riesigen, 10-15 Tonnen schweren konventionellen und sogenannten thermobarischen Waffen zur Zerstörung unterirdischer Bunker soll intensiviert werden. Voranzutreiben sei insbesondere die Forschung an hochenergetischen Materialien, die das Potential haben, bis zum 100-fachen der Energie von TNT bei der Explosion freizusetzen. Der Einsatz mehrerer solcher Waffen, gefolgt von einem relativ kleinen Atomsprengsatz biete die Aussicht, selbst bis zu 200 Meter tief unter der Erde liegende Ziele funktionsunfähig zu machen. Weiter soll geprüft werden, ob strategische - also weitreichende - Trägersysteme mit intelligenten Waffen wie Antifahrzeugminen ausgestattet werden könnten, z.B. zur Bekämpfung von Raketenstartgeräten. Strategische Waffen könnten auch Sensoren ausbringen.

Die Autoren glauben, dass durch die Einführung konventioneller strategischer Optionen und die Miniaturisierung nuklearer Waffen der Rückgriff auf einen Nuklearwaffeneinsatz unwahrscheinlicher wird. Es sei im Interesse der USA, dass Atomwaffen nicht eingesetzt werden, so die Pentagon-Berater. Doch wenn der Unterschied zwischen den wachsenden Fähigkeiten konventioneller Waffen und der Wirkung einsetzbar gemachter Nuklearwaffen immer kleiner wird, könnte es gut sein, das auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass atomare Waffen doch wieder eingesetzt werden.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).