Streitkräfte und Strategien - NDR info
 02. Juli 2016


Vorbereitungen für den NATO-Gipfel – Bündnis auf Kollisionskurs

von Otfried Nassauer


Der NATO-Gipfel in Warschau wirft seine Schatten voraus – viele und lange Schatten. Lautstark warnen Polen und Balten vor der Bedrohung durch Russland. Ebenso laut tragen sie ihre Forderung nach einer möglichst umfangreichen und dauerhaften Stationierung ausländischer NATO-Truppen auf ihrem Territorium vor. Ein Manöver in Polen und im Baltikum jagt das andere. In den letzten drei Monaten waren es Übungen wie Ramstein Alloy, Flaming Sword, Brilliant Jump Deploy, Swift Response, Iron Wolf, Saber Strike, Anakonda und das Marinemanöver Baltops. Auf vielerlei Weise demonstriert die NATO, dass sie es ernst meint mit der erweiterten Verteidigungsplanung für Polen und die baltischen Republiken, die sie bereits 2010 beschlossen hatte. Auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 wurde schließlich nachgelegt und weitere militärische Maßnahmen zur Rückversicherung dieser Länder vereinbart.
 
Und dann das: Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister, sagte der Bild am Sonntag in einem Interview – Zitat:

„Was wir jetzt allerdings nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt. Wir sind gut beraten, keine Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu liefern. Es wäre fatal, jetzt den Blick auf das Militärische zu verengen und allein in einer Abschreckungspolitik das Heil zu suchen.“ 

Ein Paukenschlag? Kurz vor dem Gipfel scharfe Kritik an NATO-Manövern? Schnell stellte sich heraus, dass die Zeitung das Zitat aus dem Kontext gerissen hatte. Der Minister hatte erklärt, er halte das Vorgehen der NATO für richtig und erst dann vor weiterem Säbelrasseln und Kriegsgeheul gewarnt. In Luxemburg stellte er tags darauf klar: 

O-Ton Steinmeier
„Mein Hinweis bezieht sich darauf, dass nach all unserer Erfahrung, jedenfalls meiner, Abschreckung am Ende nicht ausreichen wird, wenn man nicht gleichzeitig, der Tradition der NATO folgend, neben das Thema Abschreckung auch den Austausch, den Dialog setzt. Und mir scheint es im Augenblick so zu sein, als würden wir diese zweite Säule völlig vergessen. Und dies war eine Erinnerung daran, dass wir uns deshalb nicht allein auf militärische Stärke verlassen können. (...) Das ist ein nicht weniger wichtiger Beitrag zur europäischen Sicherheit als der, den andere gegenwärtig betonen und öffentlich zeigen.“ 

Steinmeier wollte also das Harmel-Konzept der NATO aus dem Kalten Krieg in Erinnerung rufen, das auf zwei gleichwertigen Pfleilern ruhte: Der militärischen Abschreckung und der Bereitschaft zum Dialog mit der anderen Seite. Beide gemeinsam sollten den Ausbruch eines Krieges in Europa verhindern.
 
Eine durchaus sinnvolle Erinnerung. Die oft sehr konfrontative Russland-Rhetorik aus Polen, den baltischen Staaten und den USA kann das Risiko vergrößern, dass aus der behaupteten russische Bedrohung eine reale Bedrohung wird. Diese Gefahr heraufzubeschwören und dann größere militärische Kräfte dauerhaft an der Nordostflanke der NATO zu stationieren, liegt aber keinesfalls im Interesse der meisten NATO-Mitglieder, auch nicht der USA.
 
Die Bereitschaft der anderen NATO-Staaten, den Forderungen aus Polen und dem Baltikum nachzukommen, hat deshalb bislang Grenzen. Das Bündnis will nicht offen gegen Zusagen verstoßen, die es Moskau in der NATO-Russland-Grundakte 1997 gemacht hat. Damals wollte das Bündnis erreichen, dass Moskau die erste Runde der NATO-Osterweiterung akzeptiert. Die Grundakte ist kein rechtlich bindender Vertrag, aber ein politisch verbindliches Dokument. Zwei dieser Zusagen sind hier besonders wichtig:
 
Zum einen versprach die NATO Moskau damals, dass sie keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationieren werde. Zum anderen wird in der Grundakte wörtlich festgehalten - Zitat: 

„Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, und auch nicht die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern.“ 

Auch in Zukunft sehe man dazu „keinerlei Notwendigkeit“.

Diese Grundakte will die Mehrheit der NATO-Staaten nicht aufkündigen, auch wenn konservative polnische Politiker das gelegentlich fordern.
 
Auf dem Warschauer Gipfel soll beschlossen werden, künftig je ein NATO-Bataillon in Polen und in den baltischen Republiken zu stationieren. Das Personal dieser Verbände soll regelmäßig ausgetauscht werden. Die NATO geht davon aus, dass sie damit den ersten Teil ihrer Zusage weiter einhält. 

Etwas komplizierter verhält es sich möglicherweise mit dem zweiten Teil, also der nuklearen Abschreckung. Die NATO hat zwar ihre Zusage, auf dem Territorium der neuen Mitglieder keine Atomwaffen zu stationieren, bislang eingehalten. Polnische Forderungen, diese Möglichkeit offenzuhalten, sind bislang zurückgewiesen worden. Strittig könnte dagegen sein, ob die NATO sich weiter an die Zusage hält, keine Änderungen an ihrer Nuklearpolitik vorzunehmen. Das ist in der Tat schwer zu beurteilen, weil die NATO sich zu nuklearen Fragen seit einigen Jahren nur noch schmallippig oder wolkig äußert. Jens Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär, auf die Frage, was die Sitzung der Nuklearen Planungsgruppe im vergangenen Monat ergeben habe: 

O-Ton Stoltenberg (overvoice)
„Die Nukleare Planungsgruppe hat gestern getagt und der Hauptzweck war, sicherzustellen, dass wir weiter eine sichere und gut abgesicherte nukleare Abschreckung aufrecht erhalten. Die NATO bleibt eine nukleare Allianz. Wir gehen konkret und bedachtsam an all unsere Arbeit in diesem Bereich heran. Ich werde nicht auf Details eingehen, aber ich kann mitteilen, dass wir unsere Politik und Fähigkeiten immer wieder überprüfen - und das in einer vorsichtigen und maßvollen Weise.“ 

Seit vielen Jahren plädieren vor allem die neuen Mitglieder der NATO dafür, die Nuklearwaffen in Europa beizubehalten und deren Rolle wieder zu stärken. 2010 vollzog sich in den USA und in der NATO eine Trendwende. Wurde in den Jahren zuvor eher darüber diskutiert, ob das in Europa stationierte Atomwaffenpotenzial der USA ein Auslaufmodell werden sollte, so gab US-Präsident Obama im April 2010 mit seinem Nuclear Posture Review eine deutlich andere Entwicklungsrichtung vor. Die USA leiteten ein umfassendes Modernisierungsprogramm für ihre atomarfähigen Trägersysteme und ihre nuklearen Sprengköpfe ein. Die zeitlich ersten Projekte waren dabei die Einführung eines neuen Trägerflugzeugs für nichtstrategische Nuklearwaffen, des Joint Strike Fighters, und die Modernisierung jenes Atombomben-Typs, der auch in Europa stationiert ist, der B61. Zu den Argumenten für dieses Modernisierungsvorhaben gehörte ausdrücklich die nukleare Abschreckung in Europa als Ausdruck der Bündnissolidarität Washingtons. Die damalige Außenministerin, Hillary Clinton, formulierte einen zentralen Satz, der auch das 2010 verabschiedete und bis heutige gültige Strategische Konzept der NATO prägt: Die NATO werde eine nukleare Allianz bleiben, solange es Nuklearwaffen gibt.
 
Zwei Jahre später, 2012, verabschiedete das Bündnis ein neues militärstrategisches Konzept. In dem geheimen Dokument MC400/3 wurde die Rolle nuklearer Waffen genauer ausformuliert. Ein weiteres Dokument enthält neue Richtlinien für nukleare Konsultationen im Bündnis.
 
In der Folge konnten sich die neuen NATO-Mitglieder auch an praktischen Aufgaben im Rahmen der atomaren Abschreckung beteiligen. Polen, die Tschechische Republik, Ungarn und Rumänien interessierten sich dafür, mit konventionellen Mitteln an nuklearen Operationen der NATO teilzunehmen, also an dem Programm Snowcat mitzuwirken. Jagdflugzeuge aus diesen Ländern können nun zum Beispiel Begleitschutz für die Trägerflugzeuge der Atomwaffen fliegen. An den jährlichen Manövern zur Überprüfung des Ausbildungsstandes der nuklearen NATO-Einheiten nahm Polen 2014 erstmals teil. 2015 war Polen in Büchel erneut dabei, tschechische Flugzeuge übten gleichzeitig einige Tage im benachbarten Nörvenich. 

Der NATO-Gipfel in Warschau wird voraussichtlich noch nicht endgültig entscheiden, ob und wie sich die Rolle nuklearer Waffen ändern soll. Wahrscheinlich ist, dass die Staats- und Regierungschefs die Arbeitsebene des Bündnisses anweisen, die Optionen für das künftige Vorgehen der Allianz gründlich auszuloten. Zahlreiche Vorschläge für solche Optionen sind auf politischer und wissenschaftlicher Ebene bereits vor diesem Gipfel gemacht worden. 

Und aufgeschoben heißt nicht aufgehoben. Die NATO wird sich schon bald erneut mit der nuklearen Abschreckung befassen müssen. Sie muss entscheiden, wie viele modernisierte, leistungsfähigere US-Atombomben, in Europa stationiert werden sollen und welche Rolle ihnen zukommen soll. Das Ringen geht also weiter.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS