Streitkräfte und Strategien - NDR info
09. Februar 2013


Deutsche Rüstungsindustrie - Überschätzter Wirtschaftsfaktor?

von Otfried Nassauer

Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – kurz BDSV – will der wehrtechnischen Industrie in Deutschland wieder eine gewichtige Stimme geben. 2009 gegründet, gehören dem Verband mittlerweile rund 80 Unternehmen an. Von A wie Atlas Elektronik bis Z wie die Zahnradfabrik Friedrichshafen. Großkonzerne wie EADS und Daimler Benz ebenso wie Mittelständler. Mit Georg Wilhelm Adamowitsch hat sich der Verband einen gut vernetzten Sozialdemokraten und ehemaligen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium als Hauptgeschäftsführer geholt.

Die Rüstungsindustrie in Deutschland schrumpft seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Zahl der Beschäftigten ist massiv zurückgegangen. Die Nachfrage seitens der Bundeswehr stagniert. Besserung ist nicht in Sicht, weil auch die wiederholten Reformen der Streitkräfte nicht genug Geld für wesentliche neue Investitionen freigesetzt haben. Noch immer ist der Verteidigungshaushalt durch Großprojekte blockiert, die bereits zu Zeiten des Kalten Krieges begonnen wurden. Beispiele sind der Eurofighter oder der Kampfhubschrauber Tiger. Die Produktionskapazitäten der Industrie werden inzwischen immer stärker durch Rüstungsexportgeschäfte ausgelastet. Bei vielen Firmen werden 70 bis 80 Prozent des Umsatzes durch Exporte erwirtschaftet. Der regelmäßige Ruf, Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie zu beseitigen und Rüstungsexporte endlich freigiebiger zu handhaben, wirkt vor diesem Hintergrund weder glaubwürdig noch kommt er in der Öffentlichkeit gut an. Kein Wunder, wenn bereits drei Viertel oder vier Fünftel der Produktion in den Export gehen. Kommt die Bundesregierung den Bedürfnissen der Rüstungsindustrie weiter entgegen, so muss sie heute langjährige Tabus brechen und öffentlich Ärger riskieren. Denn wer Panzer nach Saudi-Arabien oder U-Boote nach Israel oder Ägypten liefern lässt, muss sich öffentlich rechtfertigen. Politisch ist auf diesem Weg nur schwer ein Blumentopf zu gewinnen. Selbst dann, wenn die Politik zum Tabubruch bereit ist.

Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, BDSV, will deshalb andere Wege gehen. Er will der Rüstungsindustrie wieder ein günstigeres argumentatives Umfeld schaffen. Eines, in dem sie wieder erfolgreich auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen und dafür werben kann, dass sich die Bedingungen für ihr wirtschaftliches Wachstum verbessern. Der Name des BDSV signalisiert den Ansatzpunkt. Künftig soll nicht mehr von Wehrtechnik oder Rüstungsindustrie die Rede sein, sondern von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Aus der klassischen wehrtechnischen      Industrie und den neuen Sicherheitsindustrien, die Risiken wie den Terrorismus, zerfallende Staaten, die Gefährdung kritischer Infrastrukturen, Cyberangriffe oder Pandemien als Geschäftsfelder entdeckt haben, soll eine neue, größere und wieder schlagkräftige Branche geformt werden.

Der BDSV hat das Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstitut WIFOR beauftragt, die neue Branche und deren volkswirtschaftliche Bedeutung zu beschreiben. Ein erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, wie intensiv die wehrtechnische Industrie die Aussagekraft gerade solcher meist kritischer Studien in früheren Jahrzehnten immer wieder bestritten hat. Der Hauptgeschäftsführer des BDSV, Georg Wilhelm Adamowitsch, vertrat jetzt anlässlich der Veröffentlichung der Ergebnisse des Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstituts WIFOR Mitte Dezember eine ganz andere Position:

O-Ton Adamowitsch
„Der BDSV will mit dieser Studie zu einer Versachlichung der Diskussion über den Stellenwert der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als Teil der deutschen Volkswirtschaft beitragen.“

Auf den ersten Blick erfüllt das Ergebnis voll und ganz den erhofften Zweck. Sprach der BDSV bislang davon, dass die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie gemeinsam rund 80.000 Menschen beschäftigen, einen jährlichen Umsatz von rund 16 Mrd. Euro erwirtschaften und dies zu 70-80 Prozent durch Exportgeschäfte erreichen, so klingt das jetzt ganz anders. Noch einmal Adamowitsch:

O-Ton Adamowitsch
„In der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie waren 2011 ca. 98.000 Mitarbeiter direkt beschäftigt. Die gesamte Geschäftstätigkeit der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie sichert darüber hinaus ca. 220.000 Arbeitsplätze in Deutschland.“

Die Beschäftigungswirkung der Branche liegt also laut Studie insgesamt bei knapp 320.000 Arbeitsplätzen. Eine ganz andere Größenordnung als bisher, die vor allem den Daten aus der erweiterten Sicherheitsindustrie geschuldet ist. Hier sei die Beschäftigung in den vergangenen Jahren viel schneller als in der Gesamtwirtschaft gewachsen. Das Güteraufkommen und der Produktionswert der Branche habe sich ebenfalls kräftig erhöht. Dank der starken Binnennachfrage von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft betrage der Exportanteil in der erweiterten Sicherheitsbranche nur knapp 45 Prozent. Luft nach oben also. Zahlen, mit denen sich gut argumentieren lässt, wenn man von einem prosperierenden Wirtschaftszweig mit großer Beschäftigungswirkung reden möchte, mit hohem Innovationsbeitrag, Wachstumspotential und steigenden Exportmöglichkeiten. Zahlen, die dem BDSV als Verband mehr Gewicht versprechen.

Doch ein zweiter Blick weckt Zweifel. Die Studie unterscheidet zwischen zwei Bereichen: Einem Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, der Waffensysteme, Waffen und Munition herstellt und einem erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie, der Güter für Ausbildung und Einsatzbereitschaft produziert, sowie für Mobilität, Überwachung, Aufklärung, Führung, Kontrolle und Kommunikation und für die Schadensminimierung. Die Güter des Kernbereichs finden ihre Abnehmer weitestgehend beim Militär und bei paramilitärischen Strukturen, also praktisch nur bei Staaten. Die Güter des erweiterten Bereichs finden ihre Abnehmer teils bei staatlichen Behörden wie Polizei, Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk oder Rettungsorganisationen und – vor allem natürlich auch in der Privatwirtschaft. Diese Zweiteilung stellt einen Paradigmenwechsel dar.

Die Abgrenzung des Kernbereichs der Verteidigungsindustrie von dem erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie und vieles andere in der Studie können jedoch kaum überzeugen: Gefechtsübungszentren, Aufklärungsdrohnen, Radar- oder Führungssysteme, also typische Militärgüter, die an Staaten geliefert werden, finden sich jetzt in der Kategorie der erweiterten Sicherheitsindustrie ebenso wie Radioaktivitätsdetektoren, die für die ABC-Abwehr genauso bedeutsam sind wie für den Katastrophenschutz oder die Lebensmittelindustrie. Die Folge: Der Bereich der erweiterten Sicherheitsindustrie wird aufgebläht und teilweise konturlos. Der Kernbereich der Wehrtechnik dagegen, die wehrtechnische Industrie wird künstlich kleingerechnet. Doch die Studie enthält noch andere Ungereimtheiten und Widersprüche: Zum wehrtechnischen Kernbereich zählen die Autoren nur noch gut 17.000 der 98.000 direkt Beschäftigten, auf die man offenbar nur dann kommt, wenn weite Teile des zivilen, sicherheitstechnischen Bedarfs der privaten Industrie zum Produktportfolio der erweiterten Sicherheitsindustrie zählt . Mit 3,9 Mrd. Euro entfallen laut vorgelegter WIFOR-Studie nur noch rund 17 Prozent des Produktionswertes der gesamten Sicherheits- und Verteidigungsindustrie auf den wehrtechnischen Kernbereich. Bedenkt man, dass die Bundesregierung 2011 Einzel- und Sammelausfuhren von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern im Wert von über 10 Milliarden EURO genehmigt hat, so zeigt sich, dass mit den Zahlen der BDSV-Studie vor allem eins erreicht wird: Unvergleichbarkeit und Verwirrung. Das könnte zwar durchaus gewollt sein, aber auch auf die Verfasser der Studie und ihre Auftraggeber zurückfallen. Zumindest dann, wenn sich andere Volkswirtschaftswissenschaftler einmal kritisch mit Methodologie und Datenbasis der WIFOR-Studie auseinandersetzen.

Für eine Lobbyarbeit zugunsten der klassischen Rüstungsindustrie sind die neuen wohlfeilen Zahlen jedoch bereits heute kaum hilfreich Auch wenn der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie von erheblich mehr Beschäftigen ausgeht als bisher - die Zahlen bleiben willkürlich und signalisieren der Öffentlichkeit letztlich, dass der Rüstungsindustrie eine viel zu große Bedeutung und noch immer ein viel zu großes politisches Gewicht beigemessen wird .


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS