Aus alt mach neu
Raketenabwehrpläne der USA
von Otfried Nassauer
Westeuropa atmete hörbar auf, als U.S.- Präsident Barack Obama
am 17. September bekannt gab, seine Regierung verzichte auf die Stationierung
des umstrittenen Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik.
Obama bekam breite Zustimmung. Angela Merkel sah in seinem Schritt ein
- Zitat „hoffnungsvolles Signal, die Schwierigkeiten mit Russland zu überwinden.“
Außenminister Steinmeier begrüßte die Gelegenheit – Zitat
– „das Thema Raketenabwehr in Europa noch einmal mit allen Partnern neu
zu diskutieren.“ Auch die russische Regierung reagierte positiv.
In der allgemeinen Erleichterung ging der zweite Teil von Obamas Entscheidung
weitgehend unter: Der US-Präsident kündigte an, er werde die
bisherige Planung für eine Raketenabwehr in Europa durch eine neue
ersetzen. Wie aber sieht diese neue Planung aus?
Ausgangspunkt war eine Neubewertung der iranischen Raketenprogramme.
Der Iran mache große Fortschritte bei der Entwicklung von Kurz-
und Mittelstreckenraketen. In absehbarer Zukunft könnten diese eine
konkrete Bedrohung für US-Truppen und Alliierte im Nahen und Mittleren
Osten sowie in Südosteuropa werden. Interkontinentalraketen dagegen,
die das amerikanische Festland erreichen könnten, seien Zukunftsmusik.
So die neue Einschätzung.
Aufgrund dieser Analyse entschied sich Obama, den Schwerpunkt der amerikanischen
Planung für die Raketenabwehr in Europa zu verlagern. Seine Regierung
will zunächst Abwehrsysteme gegen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite
aufstellen. Zugleich will sie sich die Möglichkeit bewahren, auf
überraschende Fortschritte des Irans bei der Entwicklung von Langstreckenraketen
flexibel zu reagieren.
Das heißt konkret: In einem ersten Schritt sollen ab 2011 Abfangsysteme
auf Kriegsschiffen mit dem AEGIS-System, der neuen Abfangrakete SM-3 und
mit Hilfe des landgestützten mobilen Radarsystems AN/TPY-2 im Mittelmeerraum
sowie im Nahen Osten und Mittleren Osten stationiert werden. Dabei gehe
es um erfolgreich getestete Systeme, die Raketen mit Reichweiten von bis
zu 2000 Kilometern abfangen können.
In einem zweiten Schritt sollen ab etwa 2015 eine leistungsstärkere
Version der Abfangrakete SM-3 und bessere Aufklärungssensoren hinzukommen.
Damit soll der Raum vergrößert werden, der gegen anfliegende
Raketen geschützt werden kann. Neben die seegestützte Version
der SM-3 soll eine landgestützte, verlegbare Variante treten. Schrittweise
soll ein Schutz für alle NATO-Länder in Europa entstehen.
In weiteren Phasen soll ab 2018 eine neue Version der Abfangrakete SM-3
eingeführt werden, die derzeit entwickelt wird. Sie soll auch Raketen
großer Reichweite und sogar Interkontinentalraketen bekämpfen
können.
Die neue Planung sei nicht nur besser an die Bedrohungsentwicklung angepasst,
flexibler und kostengünstiger. Sie erlaube auch eine viel intensivere
Zusammenarbeit mit den Verbündeten in der NATO und mit Russland,
heißt es in Washington. Zudem ermöglicht sie eine bessere Koordination
mit anderen landgestützten Abfangsystemen für Kurz- und Mittelstreckenraketen
wie zum Beispiel Patriot und THAAD.
Zweifelsohne: Das Argument trifft zu. In der NATO wird unter dem Kürzel
ALTBMD an einer integrierten Aufklärungs- und Führungsstruktur
für eine Raketenabwehr gearbeitet. Sie soll eine Vielzahl nationaler
Projekte und Vorhaben integrieren. Auch hier liegt der Schwerpunkt bei
den Abwehrmöglichkeiten gegen Raketen mit Reichweiten von bis zu
3.000 Kilometern. Dazu passt Obamas neue Schwerpunktsetzung gut. Vielen
Staaten können mitwirken und die Stationierung landgestützter
SM-3-Raketen oder verlegbarer Radare auf ihrem Territorium zulassen..
Das gilt auch für Staaten außerhalb der NATO. In Israel steht
zum Beispiel bereits seit 2008 ein solches Radar. Länder wie die
Ukraine oder Georgien haben Interesse an einer Stationierung geäußert.
Selbst Russland könnte über eigene Radarsysteme eingebunden
werden.
Doch was auf den ersten Blick viele unterschiedliche Interessen gut bedient,
hat auch seine Haken. Das wurde deutlich, als Obamas Regierung auf die
Enttäuschung reagieren musste, die ihre Entscheidung in Polen und
Tschechien hervorrief. Beide Länder hatten sich von den Raketenabwehrsystemen
US-Truppen im eigenen Land, deutlich mehr Einfluss in der NATO und vor
allem eine langfristige Festlegung versprochen, dass die NATO weiter gegen
Russland ausgerichtet bleibe. Nun fühlten sie sich von Obama im Stich
gelassen.
Washington bemühte sich rasch, die Enttäuschung zu begrenzen.
Dabei zeigte sich, dass auch die neue Planung ein zweischneidiges Schwert
werden kann. Ellen Tauscher, die stellvertretende Außenministerin
für Rüstungskontrolle und Internationale Sicherheitspolitik,
bestätigte am 7. Oktober, dass auch die neuen Pläne die Aufstellung
von Abfangraketen in Polen erlauben. Die US-Regierung habe Polen bereits
angeboten, landgestützter SM-3 Raketen zu stationieren und eine Änderung
des Stationierungsvertrages vorgeschlagen. Der Tschechischen Republik
sei angeboten worden, das Hauptquartier für Raketenabwehr dort einzurichten.
Generalleutnant o’ Reilly, der Chef der Raketenabwehragentur, wies darauf
hin, dass man für den Preis der bisher geplanten 10 Abfangraketen
jetzt bis zu 70 der neuen Abfangflugkörper kaufen könne.
Das wirft die Frage auf, ob die neue Planung Russland auch auf längere
Sicht beruhigen kann? Kurzfristig ist es gewährleistet, weil ein
Abwehrsystem gegen Mittelstreckenraketen Russlands nukleare Abschreckung
nicht ernsthaft gefährden kann. Doch mittelfristig ändert sich
das Bild: Sollten ab 2020 leistungsgesteigerte SM-3-Raketen stationiert
werden, die auch Langstreckenraketen abfangen können, so droht aufs
Neue die kontroverse Debatte der letzten Jahre. Zudem zeigen die Planungsdokumente
der US-Raketenabwehragentur, dass die Entwicklung der bislang in Polen
geplanten zweistufigen Abfangrakete nicht gestoppt wird. Sie soll als
Rückfalloption zur Verfügung stehen, falls technische Probleme
bei der Umsetzung der neuen Planung auftreten. Im Herbst 2010 soll sie
erstmals getestet werden.
Kritiker der Raketenabwehr in den USA weisen zudem darauf hin, dass
auch Obamas Plan für die Raketenabwehr in Europa technische Risiken
birgt und keinen glaubwürdigen Schutz garantiert. Ähnlich wie
das von George W. Bush geplante Raketenabwehrsystem seien die Abfangraketen
vom Typ SM-3 noch nie unter realitätsnahen Bedingungen gegen angreifende
Raketen mit Täuschkörpern getestet worden.
Auf die Bundesregierung kommt darüber hinaus ein Problem besonderer
Art zu. Washington will Israel in die Raketenabwehr für Europa einbinden.
Die schon erwähnte Stationierung eines Radars und die Zusammenarbeit
bei Israels Raketenabwehrsystem Arrow 2 machen das deutlich. Israel will
dabei eigenen Fähigkeiten einbringen und diese künftig noch
erweitern. Es plant deshalb den Bau von zwei großen Korvetten, die
über ein Radar verfügen sollen, dass zur Raketenabwehr fähig
sein soll. In die Schiffe soll auch ein Senkrechtstarter für Flugkörper
integriert werden, der von der US-Marine zum Verschuss von SM-3-Raketen
genutzt wird. Die Schiffe sollen bei der Hamburger Werft Blohm & Voss
konzipiert werden. Ihre Beschaffung hat hohe Priorität, aber Israel
fehlt das nötige Geld, um sie zu finanzieren. Es dürfte deshalb
nur eine Frage der Zeit sein, bis die Bundesregierung vor einer altbekannten
Frage steht: Ist sie bereit, Israel wie bei den Dolphin-U-Booten mit Geld
aus dem Bundeshaushalt unter die Arme zu greifen?
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
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