Auf der Suche nach einer neuen Strategie
Schwierige Bemühungen in der NATO
von Otfried Nassauer
Wenige Wochen vor dem Geburtstagsgipfel steht es um die NATO wirklich
nicht zum Besten. Acht Jahre, die von George W. Bush geprägt waren,
haben nicht nur die USA geschwächt, sondern auch die NATO. Noch vor
wenigen Jahren sah sie sich als das erfolgreichste Militärbündnis
der Geschichte. Heute gleicht sie eher einem großen Kriegerdenkmal.
Die äußere Hülle des Kolosses ist noch immer beeindruckend,
doch innen ist er hohl. Dort frisst der Rost. Eine Sanierung wird dringlich,
sonst ist die Standfestigkeit gefährdet.
Die „Wertegemeinschaft NATO“ und die westlichen Werte haben in den vergangenen
Jahren an Strahlkraft und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die
NATO ist sich darüber im Klaren, dass Bushs ideologisierter Weltkrieg
gegen den Terror letztlich in eine Sackgasse geführt hat. Dieser
Krieg hat mehr neue Risiken geschaffen als alte eingedämmt. Das Bündnis
weiß im Prinzip, dass es den Krieg in Afghanistan auf Dauer nicht
gewinnen kann. Nötig ist deshalb eine Ausstiegsstrategie, möglichst
ohne Gesichtsverlust. Auch der Streit um den Krieg gegen den Irak wirkt
noch immer nach. Zu oft betrachtete Washington die Allianz als Werkzeugkasten,
aus dem man sich militärische Werkzeuge ausleihen und Koalitionen
der Willigen für weltweite Interventionen formen konnte.
Der republikanische Senator Richard Lugar forderte 1993, die NATO müsse
„out of area“ gehen, sich also außerhalb ihrer Bündnisgrenzen
engagieren, wenn sie nicht „out of business“ gehen wolle. Der US-Politiker
konnte sich damals sicher nicht vorstellen, dass die Allianz 15 Jahre
später Gefahr laufen könnte, aufs Abstellgleis zu geraten und
zwar gerade wegen der „out of area“-Einsätze. Warum besteht diese
Gefahr? Solange es während der Ost-West-Konfrontation einen gemeinsamen
Feind gab definierte sich die NATO primär als Verteidigungsbündnis.
Der Zusammenhalt funktionierte. Seit sich das Bündnis immer öfter
mit Problemen globaler Art befasst, gibt es dagegen häufiger Streit.
Die NATO hat deutlich an innerer Kohärenz verloren. Ihre Mitglieder
sind in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung – auch bei solchen Konflikten,
die an die Substanz und das Selbstverständnis gehen. Dazu trug auch
bei, dass das Bündnis mehrfach erweitert wurde. Alte Differenzen
sind deshalb wieder sichtbar geworden: Soll die NATO Sicherheit vor Russland
oder europäische Sicherheit mit Russland ausgestalten? In dieser
Frage wünschen sich vor allem die neuen NATO-Mitglieder die alte,
gegen Russland gerichtete NATO. Die alten NATO-Mitglieder dagegen wünschen
sich meist eine neue NATO, die Fragen europäischer Sicherheit gemeinsam
mit Russland beantwortet.
Diese Auffassungsunterschiede führen zu weiteren Konflikten. Viele
neue NATO-Mitglieder wollen die Allianz schnell um weitere ehemalige Sowjetrepubliken
wie Georgien erweitern. Die meisten alten Bündnis-Mitglieder halten
dies erst für sinnvoll, wenn die territorialen und inneren Konflikte
der Beitrittsaspiranten gelöst sind. Viele alte NATO-Mitglieder möchten
Rüstungskontrolle und Abrüstung als Gestaltungsinstrumente europäischer
Sicherheit reaktivieren. Etliche neue Bündnispartner wollen dagegen,
dass die Allianz im Fall einer Krise keine rüstungskontrollpolitischen
Fesseln trägt. Manches neue Mitglied sieht die NATO vor allem als
amerikanische Sicherheitsgarantie gegen Russland und beäugt deshalb
den Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
mit Argwohn. Dieser sogenannte ESVP-Prozess wird aber vor allem von den
alten Allianz-Mitgliedern für wichtig gehalten.
Die Gastgeber des für April angesetzten NATO-Gipfels, Frankreich
und Deutschland, wollen diese Probleme nun angehen. Es sollen zwei entscheidende
Schritte gemacht werden. Frankreichs Präsident Sarkozy will sein
Land nach 40 Jahren wieder in die militärische Integration der NATO
zurückführen. Die Bundesregierung eröffnet zeitgleich die
Debatte über eine neue NATO-Strategie. Auf diese Weise soll sich
das Bündnis einen neuen Grundkonsens erarbeiten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz,
was das neue strategische Konzept der NATO leisten muss:
O-Ton Merkel
„Welches Konzept der Sicherheit haben wir eigentlich? Wir sind zu der
Überzeugung gelangt, dass das Konzept der Vernetzten Sicherheit
die richtige Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
ist. Das heißt, Krisenbewältigung und Krisenprävention
müssen durch ein Miteinander von politischen, entwicklungspolitischen,
polizeilichen, zum Teil kulturpolitischen und, wo nötig, natürlich
auch militärischen Maßnahmen erfolgen. Die NATO ist ein militärisches
Bündnis. Das heißt, wir müssen Wege finden – das muss
Teil dieses neuen strategischen Konzeptes sein –, wie wir die militärischen
Fähigkeiten der NATO mit dem Konzept der Vernetzten Sicherheit
verbinden und daraus die notwendigen Kooperationen erwachsen lassen.
Und die Bundeskanzlerin sagte auch, wie sie sich das vorstellt:
O-Ton Merkel
„Das Konzept der Vernetzten Sicherheit prägt die Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. ... Das neue strategische Konzept
der NATO muss nun diesem Konzept der Vernetzten Sicherheit entsprechen
und ihm näher kommen. ... Die NATO muss ein Ort politischer Diskussionen
sein. Man kann nicht Vernetzte Sicherheit fordern und anschließend
die NATO nur als militärisches Bündnis begreifen. Das wird
schief gehen...“
Der Gedanke ist klar: Der Ansatz der Europäischen Sicherheitsstrategie
muss in der NATO-Strategie mehr Gewicht bekommen. Den nicht-militärischen
Fähigkeiten zur Krisenbewältigung muss ein größeres
Gewicht zukommen. Über solche Fähigkeiten verfügt die Europäische
Union, nicht aber die NATO. Mit Blick auf Afghanistan heißt das
zum Beispiel: Der sogenannte „Comprehensive Approach“ der NATO muss im
Sinne der europäischen Vernetzten Sicherheit ausgelegt werden. Dazu
brauchen die EU-Staaten mehr Gewicht und mehr Gehör in der Allianz.
Ähnliches wollte vor zehn Jahren der damalige Kanzler, Gerhard Schröder.
Er verankerte den Anspruch auf eine stärkere Gewichtung der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausführlich im Kommuniqué
des NATO-Gipfels zum 50. Geburtstag der Allianz. Er unterließ es
jedoch, diesen Anspruch auch in die NATO-Strategie aufnehmen zu lassen.
Das soll nun nachgeholt werden. Mit französischer Unterstützung.
Denn Frankreichs volle Rückkehr in die militärische Integration
der NATO soll das Gewicht Europas und der alten NATO-Mitglieder stärken
- jetzt, da Washington die Grenzen seiner Macht deutlicher spürt.
Präsident Sarkozy pokert deshalb um den Preis für seinen Schritt:
Um Einfluss und wichtige NATO-Posten. Offeriert hat man ihm bereits die
Chefposten im Regionalkommando Lissabon und im Alliierten Transformationskommando
in Norfolk. Letzteres ist dem NATO-Oberbefehlshaber in Europa SACEUR gleichgestellt.
Es hat keine operative Befugnis, aber substanziellen Einfluss: In Norfolk
werden künftige Operationsstrukturen und militärische Fähigkeiten
der NATO vorgedacht. Eine stärkere Rolle Europas im Bündnis
könnte von dort aus gut vorangetrieben werden. Doch noch fordert
Sarkozy mehr. Er will auch Einfluss auf die Operationen der NATO.
Es ist keineswegs sicher, dass der deutsch-französische Aufbruch
in eine europäischere NATO gelingt. Das liegt zum einen an Washington.
Dort hat man noch nicht entschieden, ob die NATO-Politik der Zukunft eine
Fortsetzung der Politik unter Präsident Clinton oder ein echter Neuanfang
werden soll. Zum anderen liegt es am deutschen Verteidigungsministerium.
Dort geht man davon aus, dass die bisherige NATO-Strategie nur weiterentwickelt
werden muss. Eine grundlegende Neufassung ist nicht geplant.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
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