Streitkräfte und Strategien - NDR info
21. Februar 2009


Auf der Suche nach einer neuen Strategie
Schwierige Bemühungen in der NATO

von Otfried Nassauer

Wenige Wochen vor dem Geburtstagsgipfel steht es um die NATO wirklich nicht zum Besten. Acht Jahre, die von George W. Bush geprägt waren, haben nicht nur die USA geschwächt, sondern auch die NATO. Noch vor wenigen Jahren sah sie sich als das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte. Heute gleicht sie eher einem großen Kriegerdenkmal. Die äußere Hülle des Kolosses ist noch immer beeindruckend, doch innen ist er hohl. Dort frisst der Rost. Eine Sanierung wird dringlich, sonst ist die Standfestigkeit gefährdet.

Die „Wertegemeinschaft NATO“ und die westlichen Werte haben in den vergangenen Jahren an Strahlkraft und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die NATO ist sich darüber im Klaren, dass Bushs ideologisierter Weltkrieg gegen den Terror letztlich in eine Sackgasse geführt hat. Dieser Krieg hat mehr neue Risiken geschaffen als alte eingedämmt. Das Bündnis weiß im Prinzip, dass es den Krieg in Afghanistan auf Dauer nicht gewinnen kann. Nötig ist deshalb eine Ausstiegsstrategie, möglichst ohne Gesichtsverlust. Auch der Streit um den Krieg gegen den Irak wirkt noch immer nach. Zu oft betrachtete Washington die Allianz als Werkzeugkasten, aus dem man sich militärische Werkzeuge ausleihen und Koalitionen der Willigen für weltweite Interventionen formen konnte.

Der republikanische Senator Richard Lugar forderte 1993, die NATO müsse „out of area“ gehen, sich also außerhalb ihrer Bündnisgrenzen engagieren, wenn sie nicht „out of business“ gehen wolle. Der US-Politiker konnte sich damals sicher nicht vorstellen, dass die Allianz 15 Jahre später Gefahr laufen könnte, aufs Abstellgleis zu geraten und zwar gerade wegen der „out of area“-Einsätze. Warum besteht diese Gefahr? Solange es während der Ost-West-Konfrontation einen gemeinsamen Feind gab definierte sich die NATO primär als Verteidigungsbündnis. Der Zusammenhalt funktionierte. Seit sich das Bündnis immer öfter mit Problemen globaler Art befasst, gibt es dagegen häufiger Streit.

Die NATO hat deutlich an innerer Kohärenz verloren. Ihre Mitglieder sind in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung – auch bei solchen Konflikten, die an die Substanz und das Selbstverständnis gehen. Dazu trug auch bei, dass das Bündnis mehrfach erweitert wurde. Alte Differenzen sind deshalb wieder sichtbar geworden: Soll die NATO Sicherheit vor Russland oder europäische Sicherheit mit Russland ausgestalten? In dieser Frage wünschen sich vor allem die neuen NATO-Mitglieder die alte, gegen Russland gerichtete NATO. Die alten NATO-Mitglieder dagegen wünschen sich meist eine neue NATO, die Fragen europäischer Sicherheit gemeinsam mit Russland beantwortet.

Diese Auffassungsunterschiede führen zu weiteren Konflikten. Viele neue NATO-Mitglieder wollen die Allianz schnell um weitere ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien erweitern. Die meisten alten Bündnis-Mitglieder halten dies erst für sinnvoll, wenn die territorialen und inneren Konflikte der Beitrittsaspiranten gelöst sind. Viele alte NATO-Mitglieder möchten Rüstungskontrolle und Abrüstung als Gestaltungsinstrumente europäischer Sicherheit reaktivieren. Etliche neue Bündnispartner wollen dagegen, dass die Allianz im Fall einer Krise keine rüstungskontrollpolitischen Fesseln trägt. Manches neue Mitglied sieht die NATO vor allem als amerikanische Sicherheitsgarantie gegen Russland und beäugt deshalb den Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit Argwohn. Dieser sogenannte ESVP-Prozess wird aber vor allem von den alten Allianz-Mitgliedern für wichtig gehalten.

Die Gastgeber des für April angesetzten NATO-Gipfels, Frankreich und Deutschland, wollen diese Probleme nun angehen. Es sollen zwei entscheidende Schritte gemacht werden. Frankreichs Präsident Sarkozy will sein Land nach 40 Jahren wieder in die militärische Integration der NATO zurückführen. Die Bundesregierung eröffnet zeitgleich die Debatte über eine neue NATO-Strategie. Auf diese Weise soll sich das Bündnis einen neuen Grundkonsens erarbeiten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, was das neue strategische Konzept der NATO leisten muss:

O-Ton Merkel
„Welches Konzept der Sicherheit haben wir eigentlich? Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass das Konzept der Vernetzten Sicherheit die richtige Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist. Das heißt, Krisenbewältigung und Krisenprävention müssen durch ein Miteinander von politischen, entwicklungspolitischen, polizeilichen, zum Teil kulturpolitischen und, wo nötig, natürlich auch militärischen Maßnahmen erfolgen. Die NATO ist ein militärisches Bündnis. Das heißt, wir müssen Wege finden – das muss Teil dieses neuen strategischen Konzeptes sein –, wie wir die militärischen Fähigkeiten der NATO mit dem Konzept der Vernetzten Sicherheit verbinden und daraus die notwendigen Kooperationen erwachsen lassen.

Und die Bundeskanzlerin sagte auch, wie sie sich das vorstellt:

O-Ton Merkel
„Das Konzept der Vernetzten Sicherheit prägt die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. ... Das neue strategische Konzept der NATO muss nun diesem Konzept der Vernetzten Sicherheit entsprechen und ihm näher kommen. ... Die NATO muss ein Ort politischer Diskussionen sein. Man kann nicht Vernetzte Sicherheit fordern und anschließend die NATO nur als militärisches Bündnis begreifen. Das wird schief gehen...“

Der Gedanke ist klar: Der Ansatz der Europäischen Sicherheitsstrategie muss in der NATO-Strategie mehr Gewicht bekommen. Den nicht-militärischen Fähigkeiten zur Krisenbewältigung muss ein größeres Gewicht zukommen. Über solche Fähigkeiten verfügt die Europäische Union, nicht aber die NATO. Mit Blick auf Afghanistan heißt das zum Beispiel: Der sogenannte „Comprehensive Approach“ der NATO muss im Sinne der europäischen Vernetzten Sicherheit ausgelegt werden. Dazu brauchen die EU-Staaten mehr Gewicht und mehr Gehör in der Allianz. Ähnliches wollte vor zehn Jahren der damalige Kanzler, Gerhard Schröder. Er verankerte den Anspruch auf eine stärkere Gewichtung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausführlich im Kommuniqué des NATO-Gipfels zum 50. Geburtstag der Allianz. Er unterließ es jedoch, diesen Anspruch auch in die NATO-Strategie aufnehmen zu lassen. Das soll nun nachgeholt werden. Mit französischer Unterstützung. Denn Frankreichs volle Rückkehr in die militärische Integration der NATO soll das Gewicht Europas und der alten NATO-Mitglieder stärken - jetzt, da Washington die Grenzen seiner Macht deutlicher spürt. Präsident Sarkozy pokert deshalb um den Preis für seinen Schritt: Um Einfluss und wichtige NATO-Posten. Offeriert hat man ihm bereits die Chefposten im Regionalkommando Lissabon und im Alliierten Transformationskommando in Norfolk. Letzteres ist dem NATO-Oberbefehlshaber in Europa SACEUR gleichgestellt. Es hat keine operative Befugnis, aber substanziellen Einfluss: In Norfolk werden künftige Operationsstrukturen und militärische Fähigkeiten der NATO vorgedacht. Eine stärkere Rolle Europas im Bündnis könnte von dort aus gut vorangetrieben werden. Doch noch fordert Sarkozy mehr. Er will auch Einfluss auf die Operationen der NATO.

Es ist keineswegs sicher, dass der deutsch-französische Aufbruch in eine europäischere NATO gelingt. Das liegt zum einen an Washington. Dort hat man noch nicht entschieden, ob die NATO-Politik der Zukunft eine Fortsetzung der Politik unter Präsident Clinton oder ein echter Neuanfang werden soll. Zum anderen liegt es am deutschen Verteidigungsministerium. Dort geht man davon aus, dass die bisherige NATO-Strategie nur weiterentwickelt werden muss. Eine grundlegende Neufassung ist nicht geplant.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS