Streitkräfte und Strategien - NDR info
05. Mai 2007


Putin und die konventionelle Rüstungskontrolle
Was hinter der angekündigten KSE-Aussetzung steckt

von Otfried Nassauer

Wladimir Putin verunsichert die NATO. Immer häufiger und immer deutlicher kritisiert der russische Präsident die Sicherheitspolitik des Westens - die Pläne Washingtons, in Tschechien und Polen Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzubauen; das Vorhaben, dem Kosovo eine überwachte Souveränität zu gewähren; die mangelnde Kooperation im NATO-Russland-Rat. In seiner letzten Rede zur Lage der Nation drohte Putin jüngst mit einem möglichen Ausstieg Russlands aus dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa – KSE. So mancher im Westen fürchtet nun eine neue Eiszeit - oder wie Außenminister Steinmeier - eine "Spirale des Misstrauens". Was also ist dran an diesen Befürchtungen? Die Auseinandersetzung um den KSE-Vertrag ist ein gutes Beispiel, um mehr Klarheit über die Beweggründe der Moskauer Führung zu erhalten.

In seiner Rede verkündete Putin – Zitat - "ein Moratorium der russischen Umsetzung des KSE-Vertrages bis alle NATO-Staaten ihn ratifizieren und beginnen, sich strikt daran zu halten – so wie es Russland bereits heute tut". Der Staatschef schlug vor, das Thema im NATO-Russland-Rat zu diskutieren. Binnen eines Jahres soll eine Lösung gefunden werden. Sollten Verhandlungen keine Lösung bringen, will Putin die Möglichkeit prüfen, die russischen Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag zu beenden.

Die NATO reagierte prompt. Sie verlangte von Moskau eine Erklärung, was Putin genau gemeint habe. Moskau wurde aufgefordert, seine vertraglichen Verpflichtungen umfassend einzuhalten. Allzu überraschend kann der russische Vorstoß für die NATO aber kaum gewesen sein. Denn seit Jahren ist bekannt, dass Russland das westliche Verhalten in Sachen KSE nicht akzeptiert.

Zur Erinnerung: Der KSE-Vertrag stammt aus dem Jahre 1990. Er legte für die Hauptwaffensysteme der NATO und des Warschauer Paktes je gleiche Obergrenzen fest. Was darüber hinausging, musste überprüfbar zerstört oder abgezogen werden. Über 60.000 Großwaffensysteme wurden in der Folge verschrottet. 1992 wurden zusätzlich nationale Obergrenzen für die Personalstärken der Streitkräfte der Länder des ein Jahr zuvor aufgelösten Warschauer Paktes und der NATO vereinbart. Beide Abmachungen wurden ratifiziert und umgesetzt.

Mit der NATO-Osterweiterung 1997 entstand ein Problem. Der auf einer "Blockstruktur" basierende Vertrag, hier Warschauer Pakt und dort NATO, war nicht länger zeitgemäß. Mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik wollten drei Mitglieder des ehemaligen Warschauer Paktes der NATO beitreten. Um das Problem zu lösen und die NATO-Erweiterung abzufedern, wurde beschlossen, den NATO-Russland-Rat zu gründen und das Mandat für Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag zu erteilen. Anlässlich des OSZE-Gipfels 1999 in Istanbul war dieser unterschriftsreif. Er enthält jetzt nationale Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme und besondere Flankenregeln für den Nord- und Südosten Russlands, sowie Obergrenzen und Regeln für die Stationierung zusätzlicher NATO-Truppen in den neuen Mitgliedstaaten der NATO. Mit den Flankenregeln sollte sichergestellt werden, dass Moskau seine durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen kleinen Nachbarn wie die baltischen Staaten oder Georgien nicht unter Druck setzt. Die Verstärkungsregeln sollen verhindern, dass die NATO die Masse ihrer Truppen einfach in die neuen Mitgliedstaaten und näher an Russlands Grenzen verlegt.

Dieser adaptierte Vertrag, nun A-KSE genannt, ist bis heute nicht in Kraft getreten. Kein NATO-Staat hat ihn ratifiziert. Slowenien und die baltischen Staaten sind nicht einmal Mitglieder des alten KSE-Vertrages geworden und unterliegen damit keinerlei Begrenzungen für Personal, Hauptwaffensysteme oder Verstärkungen. Für Moskau wurde dies spätestens zum Problem, als diese Länder vor drei Jahren NATO-Mitglieder wurden.

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 griff der russische Verteidigungsminister, Sergei Iwanow, das Thema auf und fragte: - Zitat: "Ist der KSE-Vertrag wirklich weiterhin ein Eckpfeiler der Europäischen Sicherheit?...Oder wird er zu einem weiteren Relikt des Kalten Krieges, wie der ABM-Vertrag einmal genannt wurde?" Iwanow spielte damit auf den Vertrag über ein Verbot der Raketenabwehr an, den die USA einseitig gekündigt hatten. Schon damals warnte er die NATO-Staaten. Wörtlich sagte Iwanow: - Zitat: "Im Ernst – eine Schwächung der Kontrollregime für konventionelle Waffen in Europa stimmt nicht mit den Interessen der russischen nationalen Sicherheit überein, aber sie ist auch kein irreparabler Verlust für Russlands Sicherheit, wie einige meinen könnten." Iwanow regte an, zügig im NATO-Russland-Rat ein Mandat für neue Verhandlungen zu erarbeiten, mit denen das KSE-Regime an die zweite Erweiterung der NATO angepasst werden sollte. Zudem forderte er, dass alle NATO-Staaten dem KSE-Vertrag beitreten müssten.

Bis Anfang dieses Jahres passierte allerdings nichts. Die NATO-Staaten sind bis heute untätig geblieben, obwohl Russland, Kasachstan, Weißrussland und die Ukraine das angepasste KSE-Abkommen mittlerweile ratifiziert und weitgehend umgesetzt haben. Die NATO-Mitglieder begründen ihre Zurückhaltung folgendermaßen: Zusammen mit dem angepassten KSE-Abkommen seien 1999 auf dem OSZE-Gipfel die Istanbuler Verpflichtungen verabredet worden. Russland habe sich zum Rückzug seiner verbliebenen Truppen aus Moldawien und Georgien verpflichtet. Dieser sei aber immer noch nicht vollständig abgeschlossen.

In der Tat: Ein halbes Jahr nach Istanbul haben die NATO-Außenminister sich in Florenz angesichts des Tschetschenienkrieges einseitig darauf festgelegt, das neue A-KSE-Abkommen erst zu ratifizieren, wenn der Abzug Russlands aus Georgien und Moldawien umgesetzt sei. Damit verzögern sie zugleich den Beitritt der neuen NATO-Mitglieder zum KSE-Regime. Der alte KSE-Vertrag kennt keine Klausel für den Beitritt neuer Mitglieder. Diese gibt es erst im angepassten KSE-Vertrag.

Russland lehnt diese Argumentation der NATO-Staaten ab. Die Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen sei rechtlich keine Voraussetzung, um den angepassten KSE-Vertrag zu ratifizieren. Russland habe zudem seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten Teil erfüllt. Mit Georgien habe man sich auf einen Stationierungsvertrag und einen Abzugsplan bis 2008 geeinigt und diesen bereits zu großen Teilen umgesetzt. In Moldawien seien 500 Soldaten zur Bewachung eines riesigen Depots stationiert, das nicht unbeaufsichtigt bleiben könne.

Auch unter den NATO-Staaten gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Russland genug getan habe, um die Ratifizierung des neuen KSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland würde akzeptieren, dass die per Vertrag geregelte Anwesenheit russischer Truppen in Georgien und Moldawien diese zu "Peacekeepern", zu Friedenstruppen macht, so dass Russland seine Verpflichtungen hinreichend erfüllt habe. Die USA dagegen machen einen Abzug aller Soldaten zur Voraussetzung für eine westliche Ratifizierung des Vertrages. Washington zeigt wenig Interesse an einem neuen KSE-Prozess. Vertragliche Rüstungskontrolle ist derzeit nicht beliebt und die anderen NATO-Staaten wollen es über diese Frage nicht zu einem Konflikt mit den USA kommen lassen. Die baltischen Staaten verzichten gerne auf einen Beitritt, da sie damit weiter keinerlei militärischen Beschränkungen unterliegen – vor allem mit Blick auf Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten.

Mit der Ankündigung, das KSE-Vertragssystem notfalls insgesamt in Frage zu stellen, bringt Wladimir Putin die NATO nun unter Zugzwang. Sie muss diskutieren, was ihr dieser "Eckpfeiler europäischer Sicherheit" wert ist. In der kommenden Woche wird Moskau beim NATO-Russland-Rat seine Forderungen erneut vortragen; nachdrücklich gestützt auf das Bekenntnis, Russland könne auch ohne den Vertrag leben. Das aber kann nicht im Interesse der europäischen NATO-Mitglieder sein. Vor allem sie sind daran interessiert, Russland weiterhin in das KSE-System eingebunden zu wissen. Deshalb ist das russische Verhandlungsangebot für sie interessant. Es wird also Diskussionen zwischen den USA und den Europäern geben. Diskussionen, gegen die Wladimir Putin sicher nichts einzuwenden hat. 


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS