Erinnerung an die Balkan-Krise 1914?
Pulverfass Naher und Mittlerer Osten
von Otfried Nassauer
Die Lage im Nahen und Mittleren Osten wird immer verworrener. Sie erinnert an die
Situation auf dem Balkan im Jahr 1914. Eine wachsende Zahl von Akteuren läuft mit
brennender Lunte um ein riesiges Pulverfass, das vom Mittelmeer im Westen bis nach
Pakistan im Osten reicht. Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis eine dieser Lunten
absichtlich oder nicht in diesem Fass landet und es zur Explosion bringt?
Besteht die Gefahr eines neuen Weltkrieges? Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die einzelnen Konfliktherde:
Im Libanon hat sich die Lage nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer
2006 nicht wirklich stabilisiert. Der innenpolitische Konflikt zwischen pro-westlichen
Kräften, pro-syrischen Akteuren und der durch den Krieg gestärkten Hisbollah schwelt
weiter. Die wirtschaftliche Erholung macht nur langsam Fortschritte. Kaum jemand leugnet
die Gefahr eines erneuten Bürgerkrieges oder zweifelt an der Fähigkeit der Hisbollah,
auch künftig Raketen auf israelisches Territorium abzufeuern. Dass Israel erneut hart
zurückschlagen würde, gilt als ausgemacht.
Denn Israel macht Politik im Zeichen der Schmach, keinen klaren Sieg gegen die
Hisbollah errungen zu haben. Es fürchtet, der verlorene Nimbus der Unbesiegbarkeit könne
erstmals zu einer echten Existenzgefährdung führen. Eine Politik der Stärke ist die
Folge. Washingtons Rüstungshilfe im Wert von über 30 Milliarden US-Dollar wird genutzt,
um die Waffenlager der Luftwaffe mit gewaltigen Mengen an Bomben und Raketen aufzufüllen.
Demonstrationen der Stärke auch gegenüber Syrien. Israel hat seine Militärmanöver auf
dem Golan ausgeweitet, obwohl die UN-Truppe dort keinen Anlass dafür erkennen konnte.
Syrien war Anfang September auch Ziel eines geheimnisvollen israelischen Luftangriffs.
Ziel sei eine im Bau befindliche Atomanlage gewesen, spekulierten Israel wohlgesonnene
Medien. Möglicherweise sei das zerstörte Gebäude für einen kleinen Atomreaktor
bestimmt gewesen, so einige Experten auf Basis von Satellitenbildern. Stimmt das, dann hat
Israel demonstriert, dass es heute gegen Nuklearanlagen in arabischen und islamischen
Ländern nicht erst dann militärisch vorgeht, wenn diese kurz vor der Inbetriebnahme
stehen, so wie 1981 der irakische Reaktor Osirak. Inzwischen reicht offenbar bereits der
Verdacht, dass eine Atomanlage gebaut wird. Die rote Linie läge dann heute viel weiter
vorne als früher. Der Iran hätte eine deutliche Warnung erhalten. Jerusalem spielt offen
mit dem Gedanken, iranische Atomanlagen zu bombardieren.
Der Irak ist weiterhin Schauplatz eines Krieges. Aufständische attackieren
Besatzungstruppen und die Bevölkerungsgruppen bekämpfen sich untereinander. Die
verstärkte Truppenpräsenz der USA hat trotz örtlicher Erfolge - bislang keine
entscheidende Wende herbeigeführt. Die irakische Regierung und deren Sicherheitskräfte
sind schwach. Die Bemühungen der USA, die irakischen Sunniten stärker an der Macht zu
beteiligen, treffen auf hinhaltenden Widerstand der schiitisch dominierten Regierung.
Diese will sich nicht gegen den ebenfalls schiitischen Iran in Stellung bringen lassen.
Dem Iran drohen Israel und die USA weiter mit einem Angriff auf seine Nuklearanlagen.
Auch hier wurde die rote Linie vorverlegt. Teheran soll nicht nur auf ein militärisches
Atomprogramm verzichten, sondern auch auf die zulässige zivile Nutzung atomarer
Technologien, die theoretisch militärisch genutzt werden könnten. Washington hat eine
zweite Front eröffnet und wirft dem Iran Staatsterrorismus vor. Die Revolutionsgarden,
die Pasdaran, unterstützen angeblich Aufständische im Irak und in Afghanistan. Die
Bush-Regierung hat sie deshalb auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt und scharfe
nationale Sanktionen verhängt. Der Weg zu einem Militärschlag wurde so deutlich
verkürzt. Die Pasdaran reagieren unbeeindruckt und drohen ihrerseits mit militärischen
Gegenmaßnahmen.
In Afghanistan gewinnen die Taliban weiter an Einfluss. Hoffnungen, sie zurückdrängen
und die Regierung in Kabul stärken zu können, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil:
Auch der bislang relativ ruhige Norden des Landes wird zunehmend unsicherer. Ein Scheitern
der westlichen Mission am Hindukusch ist möglich. Washington verstärkt deshalb seinen
Druck auf Pakistan, entweder selbst in den Grenzgebieten zu Afghanistan militärisch
offensiv vorzugehen oder grenzüberschreitende Operationen westlicher Einheiten aus
Afghanistan zuzulassen. Es droht eine Ausweitung des Konfliktes auf Pakistan.
Doch das Land ist selbst instabil. Pervez Musharraf, der pro-westliche General und
Präsident, ist äußerst umstritten. Er kann sich weder einen Bürgerkrieg leisten noch
den Amerikanern militärische Operationen in Pakistan erlauben. Zudem unterstützen
einflussreiche Teile des Geheimdienstes ISI und der Armee die Taliban- und
Al-Qaida-Strukturen. Sie haben die Taliban einst mit aufgebaut, um Pakistans Einfluss in
Afghanistan zu sichern.
Und nun auch noch die Türkei. Offen droht das NATO-Land, in den kurdischen Norden des
Iraks einzumarschieren, um Kämpfern der PKK den Garaus zu machen. Rund 100.000 Soldaten
sind aufmarschiert, obwohl Washington und die EU Ankara mit deutlichen Worten gewarnt
haben. Die Türkei beeindruckt das scheinbar wenig ebenso wenig wie die
Ankündigung der irakischen Kurden, militärisch Widerstand zu leisten. Erste Operationen
auf irakischem Gebiet haben bereits stattgefunden. Die Lage im Grenzgebiet ist gespannt
und wird gespannt bleiben, denn das türkische Militär wurde vom Parlament für ein
ganzes Jahr zu Operationen ermächtigt.
Viele Konflikte, viele Akteure und ein gewaltiges Eskalationspotenzial. Wenig scheint
vorhersehbar. Vieles ist möglich. Sicher ist, dass kaum ein örtlicher Akteur Washington
noch eine Stabilisierung der Lage zutraut. Im Gegenteil: Viele befürchten, George W. Bush
könnte kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft noch einen weiteren Krieg beginnen
gegen den Iran. Für solche Theorien bietet die orientalische Kultur viel Raum.
Viel Platz gewährt sie auch für Gegenreaktionen zum Schutz eigener nationaler oder
ethnischer Interessen. Stolz und Gesichtswahrung haben große Bedeutung. Militärische
Auseinandersetzungen werden nicht gescheut, auch scheinbar aussichtslose nicht. Ehrenhaft
agiert, wer sich zur Eskalation bereit zeigt.
Die Akteure beziehen Stellung, um für den Fall einer Eskalation besser gewappnet zu
sein. Die meisten sind sich in der Ablehnung eines US-Angriffs auf den Iran einig.
Wladimir Putin hat das während des Treffens der Anlieger des Kaspischen Meeres geschickt
ausgenutzt. Kein beteiligter Staat werde sein Territorium für einen Angriff auf einen der
anderen bereitstellen, verlautete auf dem Gipfel.
Doch in anderen Fragen sind sich die Akteure weniger einig. Die meisten wollen
verhindern, dass der schiitische Iran noch stärker wird. Misstrauisch beäugen sie zudem
die Rolle von Minderheiten wie Paschtunen und Kurden, die in Grenzregionen mehrerer
Staaten leben und doch keinen eigenen Staat haben. Sorgfältig wahren die Regierungen den
Status Quo der regionalen Machtverteilung. Das macht die Lage unkalkulierbar und
gefährlich. Denn gleich welche Lunte zuerst im Pulverfass landet, sie kann das ganze Fass
zur Explosion bringen.
Auch deshalb hat die türkische Drohung, im Nordirak einzumarschieren, so große
Nervosität hervorgerufen. Der bislang relativ ruhige Nordirak könnte zu einer eigenen
Konfliktregion und zum Auslöser für scharfe Kontroversen um die Zukunft der Kurden
werden. Die türkische Drohung kann aber auch konfliktbegrenzend wirken. Dann nämlich,
wenn sie im Kern eine Drohung bleibt, dass eine weitere starke Armee eingreifen könnte.
Washington würde damit signalisiert, dass auch seine militärischen
Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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