Streitkräfte und Strategien - NDR info
03. November 2007


Erinnerung an die Balkan-Krise 1914?
Pulverfass Naher und Mittlerer Osten

von Otfried Nassauer

Die Lage im Nahen und Mittleren Osten wird immer verworrener. Sie erinnert an die Situation auf dem Balkan im Jahr 1914. Eine wachsende Zahl von Akteuren läuft mit brennender Lunte um ein riesiges Pulverfass, das vom Mittelmeer im Westen bis nach Pakistan im Osten reicht. Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis eine dieser Lunten – absichtlich oder nicht – in diesem Fass landet und es zur Explosion bringt? Besteht die Gefahr eines neuen Weltkrieges? Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die einzelnen Konfliktherde:

Im Libanon hat sich die Lage nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer 2006 nicht wirklich stabilisiert. Der innenpolitische Konflikt zwischen pro-westlichen Kräften, pro-syrischen Akteuren und der durch den Krieg gestärkten Hisbollah schwelt weiter. Die wirtschaftliche Erholung macht nur langsam Fortschritte. Kaum jemand leugnet die Gefahr eines erneuten Bürgerkrieges oder zweifelt an der Fähigkeit der Hisbollah, auch künftig Raketen auf israelisches Territorium abzufeuern. Dass Israel erneut hart zurückschlagen würde, gilt als ausgemacht.

Denn Israel macht Politik im Zeichen der Schmach, keinen klaren Sieg gegen die Hisbollah errungen zu haben. Es fürchtet, der verlorene Nimbus der Unbesiegbarkeit könne erstmals zu einer echten Existenzgefährdung führen. Eine Politik der Stärke ist die Folge. Washingtons Rüstungshilfe im Wert von über 30 Milliarden US-Dollar wird genutzt, um die Waffenlager der Luftwaffe mit gewaltigen Mengen an Bomben und Raketen aufzufüllen. Demonstrationen der Stärke auch gegenüber Syrien. Israel hat seine Militärmanöver auf dem Golan ausgeweitet, obwohl die UN-Truppe dort keinen Anlass dafür erkennen konnte. Syrien war Anfang September auch Ziel eines geheimnisvollen israelischen Luftangriffs. Ziel sei eine im Bau befindliche Atomanlage gewesen, spekulierten Israel wohlgesonnene Medien. Möglicherweise sei das zerstörte Gebäude für einen kleinen Atomreaktor bestimmt gewesen, so einige Experten auf Basis von Satellitenbildern. Stimmt das, dann hat Israel demonstriert, dass es heute gegen Nuklearanlagen in arabischen und islamischen Ländern nicht erst dann militärisch vorgeht, wenn diese kurz vor der Inbetriebnahme stehen, so wie 1981 der irakische Reaktor Osirak. Inzwischen reicht offenbar bereits der Verdacht, dass eine Atomanlage gebaut wird. Die rote Linie läge dann heute viel weiter vorne als früher. Der Iran hätte eine deutliche Warnung erhalten. Jerusalem spielt offen mit dem Gedanken, iranische Atomanlagen zu bombardieren.

Der Irak ist weiterhin Schauplatz eines Krieges. Aufständische attackieren Besatzungstruppen und die Bevölkerungsgruppen bekämpfen sich untereinander. Die verstärkte Truppenpräsenz der USA hat – trotz örtlicher Erfolge - bislang keine entscheidende Wende herbeigeführt. Die irakische Regierung und deren Sicherheitskräfte sind schwach. Die Bemühungen der USA, die irakischen Sunniten stärker an der Macht zu beteiligen, treffen auf hinhaltenden Widerstand der schiitisch dominierten Regierung. Diese will sich nicht gegen den ebenfalls schiitischen Iran in Stellung bringen lassen.

Dem Iran drohen Israel und die USA weiter mit einem Angriff auf seine Nuklearanlagen. Auch hier wurde die rote Linie vorverlegt. Teheran soll nicht nur auf ein militärisches Atomprogramm verzichten, sondern auch auf die zulässige zivile Nutzung atomarer Technologien, die theoretisch militärisch genutzt werden könnten. Washington hat eine zweite Front eröffnet und wirft dem Iran Staatsterrorismus vor. Die Revolutionsgarden, die Pasdaran, unterstützen angeblich Aufständische im Irak und in Afghanistan. Die Bush-Regierung hat sie deshalb auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt und scharfe nationale Sanktionen verhängt. Der Weg zu einem Militärschlag wurde so deutlich verkürzt. Die Pasdaran reagieren unbeeindruckt und drohen ihrerseits mit militärischen Gegenmaßnahmen.

In Afghanistan gewinnen die Taliban weiter an Einfluss. Hoffnungen, sie zurückdrängen und die Regierung in Kabul stärken zu können, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Auch der bislang relativ ruhige Norden des Landes wird zunehmend unsicherer. Ein Scheitern der westlichen Mission am Hindukusch ist möglich. Washington verstärkt deshalb seinen Druck auf Pakistan, entweder selbst in den Grenzgebieten zu Afghanistan militärisch offensiv vorzugehen oder grenzüberschreitende Operationen westlicher Einheiten aus Afghanistan zuzulassen. Es droht eine Ausweitung des Konfliktes auf Pakistan.

Doch das Land ist selbst instabil. Pervez Musharraf, der pro-westliche General und Präsident, ist äußerst umstritten. Er kann sich weder einen Bürgerkrieg leisten noch den Amerikanern militärische Operationen in Pakistan erlauben. Zudem unterstützen einflussreiche Teile des Geheimdienstes ISI und der Armee die Taliban- und Al-Qaida-Strukturen. Sie haben die Taliban einst mit aufgebaut, um Pakistans Einfluss in Afghanistan zu sichern.

Und nun auch noch die Türkei. Offen droht das NATO-Land, in den kurdischen Norden des Iraks einzumarschieren, um Kämpfern der PKK den Garaus zu machen. Rund 100.000 Soldaten sind aufmarschiert, obwohl Washington und die EU Ankara mit deutlichen Worten gewarnt haben. Die Türkei beeindruckt das scheinbar wenig – ebenso wenig wie die Ankündigung der irakischen Kurden, militärisch Widerstand zu leisten. Erste Operationen auf irakischem Gebiet haben bereits stattgefunden. Die Lage im Grenzgebiet ist gespannt und wird gespannt bleiben, denn das türkische Militär wurde vom Parlament für ein ganzes Jahr zu Operationen ermächtigt.

Viele Konflikte, viele Akteure und ein gewaltiges Eskalationspotenzial. Wenig scheint vorhersehbar. Vieles ist möglich. Sicher ist, dass kaum ein örtlicher Akteur Washington noch eine Stabilisierung der Lage zutraut. Im Gegenteil: Viele befürchten, George W. Bush könnte kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft noch einen weiteren Krieg beginnen – gegen den Iran. Für solche Theorien bietet die orientalische Kultur viel Raum. Viel Platz gewährt sie auch für Gegenreaktionen zum Schutz eigener nationaler oder ethnischer Interessen. Stolz und Gesichtswahrung haben große Bedeutung. Militärische Auseinandersetzungen werden nicht gescheut, auch scheinbar aussichtslose nicht. Ehrenhaft agiert, wer sich zur Eskalation bereit zeigt.

Die Akteure beziehen Stellung, um für den Fall einer Eskalation besser gewappnet zu sein. Die meisten sind sich in der Ablehnung eines US-Angriffs auf den Iran einig. Wladimir Putin hat das während des Treffens der Anlieger des Kaspischen Meeres geschickt ausgenutzt. Kein beteiligter Staat werde sein Territorium für einen Angriff auf einen der anderen bereitstellen, verlautete auf dem Gipfel.

Doch in anderen Fragen sind sich die Akteure weniger einig. Die meisten wollen verhindern, dass der schiitische Iran noch stärker wird. Misstrauisch beäugen sie zudem die Rolle von Minderheiten wie Paschtunen und Kurden, die in Grenzregionen mehrerer Staaten leben und doch keinen eigenen Staat haben. Sorgfältig wahren die Regierungen den Status Quo der regionalen Machtverteilung. Das macht die Lage unkalkulierbar und gefährlich. Denn gleich welche Lunte zuerst im Pulverfass landet, sie kann das ganze Fass zur Explosion bringen.

Auch deshalb hat die türkische Drohung, im Nordirak einzumarschieren, so große Nervosität hervorgerufen. Der bislang relativ ruhige Nordirak könnte zu einer eigenen Konfliktregion und zum Auslöser für scharfe Kontroversen um die Zukunft der Kurden werden. Die türkische Drohung kann aber auch konfliktbegrenzend wirken. Dann nämlich, wenn sie im Kern eine Drohung bleibt, dass eine weitere starke Armee eingreifen könnte. Washington würde damit signalisiert, dass auch seine militärischen Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS