"Schweiz braucht weder neue Jets noch eine Raketenabwehr"
Interview mit Otfried Nassauer
Der Chef der Schweizer Luftwaffe hat gefordert, dass sich die Schweiz beim Aufbau einer europäischen Raketenabwehr beteiligt. Wie real ist die Gefahr, dass die Schweiz von Lenkwaffen mit einer Reichweite von 3000 Kilometern bedroht wird?
Nassauer: Um Abwehrsysteme zu rechtfertigen, wird gesagt, der Iran verfüge in zehn Jahren über Mittelstreckenraketen von dieser Reichweite. Doch das ist nicht sicher, es kann noch zwanzig oder mehr Jahre dauern. Ich schätze die Gefahr geringer ein als die meisten Auguren der Raketenabwehr. Auch Nordkorea und Pakistan kommen ja langsamer voran als vorhergesagt. Die technischen Probleme sind einfach gross. Die Iraner haben bisher nur Raketen getestet, die 1800 Kilometer fliegen. Doch die sind überhaupt nicht zielgenau.
Luftwaffenchef Markus Gygax sieht die Gefahr nicht «bei einzelnen Staaten, sondern bei Organisationen» wie den Taliban, der Hamas und der Mafia. Teilen Sie diese Einschätzung?
Nassauer: Nein. Die Taliban und ähnliche Gruppierungen müssten solche Waffen von einem Staat geschenkt bekommen. Das ist unwahrscheinlich. Der Mafia traut man viel zu, der organisierten Kriminalität ebenfalls. Doch ich halte es generell für ziemlich ausgeschlossen, dass nicht-staatliche Akteure demnächst über weitreichende Lenkwaffen verfügen. Es sei denn, es handelt sich um grosse Rüstungskonzerne, die sie selbst herstellen. Oder transnationale Firmen, die genug Geld haben, um sie zu kaufen. Auch das ist aber unwahrscheinlich.
Weshalb warnt denn Gygax davor, dass die Taliban Lenkwaffen kaufen könnten?
Nassauer: Da besteht wohl ein Problem mit der Bedrohungsanalyse. Es geht wahrscheinlich eher darum, ein neues Grossprojekt für die eigene Teilstreitkraft, also die Luftwaffe, zu rechtfertigen.
Bis vor Kurzem wollte die Schweiz neue Kampfflugzeuge beschaffen. Nun wurde die Raketenabwehr lanciert. Was wäre wichtiger?
Nassauer: Die Schweizer Armee wird in absehbarer Zeit das eigene Land nicht verteidigen müssen. Deshalb braucht sie weder unbedingt neue Kampfflugzeuge noch eine Raketenabwehr. Die Schweiz hat genügend Flieger. Man könnte sich auch mit den Österreichern oder den Deutschen oder beiden einigen, den Luftraum gemeinsam zu sichern. Dafür braucht es nicht viele Flugzeuge, weil alle drei Länder von Freunden umzingelt sind.
Der Luftwaffenchef hat betont, dass die Schweiz «gemeinsam mit Europa» ein Lenkwaffen-Abwehrsystem aufbauen sollte.
Nassauer: Aus Schweizer Sicht ist das politisch hoch problematisch. Denn es gibt ja so etwas wie die Schweizer Neutralität. Die sogenannt europäische Raketenabwehr wird allenfalls in der Nato entstehen. Die Schweiz müsste also bei der Nato andocken, nicht bei der EU, wenn sie bei einer Raketenabwehr mitmachen will oder der Allianz gar beitreten, um über einen Einsatz mitzuentscheiden. Deshalb bin ich nicht sicher, ob Ihr Luftwaffenchef seinen Vorschlag zu Ende gedacht hat. Allerdings wird es auch in der Nato kaum Konsultationen vor einem Einsatz geben, denn die Warnzeiten sind so kurz, dass eher Computer als Menschen entscheiden, wann Abfangraketen eingesetzt werden.
Könnte die Schweiz selber ein Raketenabwehrsystem installieren?
Nassauer:Ein nationales System aufzubauen, ist unbezahlbar und technisch kaum machbar. Wo sollten die Frühwarn- und Fluginformationsdaten über anfliegende Raketen denn herkommen? Das frässe das Schweizer Verteidigungsbudget für Jahrzehnte, und es brauchte ausserdem Satelliten sowie Frühwarnstationen im Ausland.
Was plant die Nato?
Nassauer: Die Allianz gibt sich im November eine neue Strategie. Auf amerikanischen Wunsch hin soll die Raketenabwehr zu einer neuen Aufgabe werden. Vor allem die neuen Nato-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa wollen, dass solche Kapazitäten beim Militärbündnis und nicht bei der EU angesiedelt werden. 2011 sollen Abwehrraketen gegen Flugkörper kürzerer Reichweite auf See und danach in Rumänien aufgestellt werden. Ab 2018 soll ein Abwehrsystem gegen Mittelstreckenraketen in Nordeuropa dazukommen. Das System soll dann ganz Europa gegen Mittelstreckenraketen aus dem Iran abdecken.
Ist die Schweiz nicht ohnehin unter diesem Raketenabwehrschirm?
Nassauer: Natürlich, sie wäre auf jeden Fall mit abgedeckt. Sie liegt in der Mitte Europas und profitiert davon. Man kann nicht Frankreich oder Deutschland schützen, ohne gleichzeitig auch die Schweiz zu schützen.
Wie gross sind die Chancen, dass die Nato den Schirm aufbaut?
Nassauer: Der Druck, insbesondere aus Washington, ist gross, die Pläne in 5 bis 15 Jahren umzusetzen. Einzelne Mitgliedstaaten des Bündnisses sind zwar vorsichtiger, weil die Bedrohung noch gar nicht existiert und vielleicht gar nie existieren wird. Ich glaube jedoch, dass die Raketenabwehr in irgendeiner Form kommen wird.
Wie soll sich die Schweiz verhalten?
Nassauer: Es gibt noch genügend Zeit für eine saubere Analyse der wahrscheinlichen Bedrohung und Risiken. Die Schweiz könnte zunächst mit den Nachbarn reden. Zumal Österreich ebenfalls neutral ist. Oder aber Bern kauft – nicht ganz ernst gemeint – zwei amerikanische Schiffe der Aegis-Klasse mit Abfangraketen und stationiert sie im Boden- und im Genfersee. Ob diese Investition aber den Finanzplatz Zürich sicherer macht, ist fraglich. (Tages-Anzeiger)
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Das Interview führte
Christof Münger |
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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