Streitkräfte und Strategien - NDR info
15. Juli 2006


Gewissensentscheidung nur für Spitzenoffiziere?
Wie das Verteidigungsministerium mit einem höchstrichterlichen Urteil umgeht

Gastbeitrag von Jürgen Rose

Ein für alle Mal stellte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Urteilsbegründung klar: "Das Grundgesetz normiert eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte." Doch so knochentrocken diese Formulierung, so überwältigend ihre Wirkung im Verteidigungsministerium. Dort hatte offenbar niemand damit gerechnet, dass die Richter einen Stabsoffizier der Bundeswehr vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung freisprechen würden – immerhin eine mit Gefängnis bedrohte Wehrstraftat. In seinem auf rund 130 Seiten sorgfältig begründeten Urteil bescheinigte der 2. Wehrdienstsenat dem angeschuldigten Major Florian Pfaff eine "an den Kategorien von ‚Gut’ und ‚Böse’ orientierte Gewissensentscheidung". Diese sei von der "erforderlichen Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit des für ihn ethisch Gebotenen geprägt. Dagegen habe er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln können". Mit ihrer Entscheidung haben die Bundesverwaltungsrichter die Heiligste Kuh der deutschen Militärpolitik geschlachtet: den angeblich unantastbaren Primat der Politik. Dieser Grundsatz gilt nur innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, während jenseits davon der Primat des Gewissens herrscht. Das ist die Kernaussage des Leipziger Urteils.

Doch diese höchstrichterliche Entscheidung trifft bei den Wehrjuristen auf heftigen Widerspruch. So fragt ein Ministerialrat namens Stefan Sohm in der "Neuen Zeitschrift für Wehrrecht" prompt: "Vom Primat der Politik zum Primat des
Gewissens?"

In dasselbe Horn bläst ein nach dem Leipziger Urteil herausgegebenes Papier der Rechtsabteilung I 5 des Ministeriums. Es wendet sich an die Rechtsberater und Rechtslehrer der Bundeswehr. Diese beraten Kommandeure, Dienststellenleiter und andere militärische Vorgesetzte. Das Dokument dient als offizielle Handlungsanweisung für den "Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissengründen Befehle nicht befolgen wollen".

Zentrale Aussagen des Papiers sind aus fachjuristischer Sicht unhaltbar und stehen im Widerspruch zur Leipziger Entscheidung. Z. B. die Aussagen zum Thema Angriffskrieg. Der Angriffskrieg wird zwar vom Grundgesetz verboten und vom Strafgesetz sanktioniert. Dennoch darf sich laut Verteidigungsministerium der gemeine Soldat darauf nicht berufen. Denn, so heißt es wörtlich in dem Papier für die Bundeswehr-Rechtsberater: "… diesem Verbot unterfallen nur Soldaten oder Soldatinnen, die als sicherheits- und militärpolitische Berater ... eine herausgehobene Funktion im Regierungsapparat ausüben." Anders ausgedrückt: Soldaten mit niederen Dienstgraden können sich nicht auf das im Grundgesetz verankerte Verbot des Angriffskrieges berufen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Nur dem General ist der Angriffskrieg verboten. Sollte er sich aber nicht daran halten: der Gefreite und andere Untergebene müssten dann in jedem Fall dabei mitmachen – eine geradezu absurde Rechtskonstruktion!

In sich völlig widersprüchlich sind auch andere Aussagen des Dokuments. Die Ministerialjuristen stellen zunächst fest, dass – so wörtlich – "Befehle, die im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts stehen, unverbindlich [sind] …Untergebene ...[dürfen] solche [Befehle] nicht befolgen". Die Soldaten müssten vielmehr "... die allgemeinen Regeln des Völkerrechts beachten".

Dieselben Autoren behaupten jedoch wenige Zeilen später, das im Völkerrecht fixierte, unabdingbar zwingende Gewaltverbot habe für den einzelnen Bundeswehrsoldaten rechtlich keine Bedeutung.

Gleiches gelte für das im Artikel 26 des Grundgesetzes sowie im Paragraphen 80 des Strafgesetzbuches festgeschriebene Verbot, einen Angriffskrieg vorzubereiten oder sich an einem solchen zu beteiligen. Die abwegige Begründung der Wehrjuristen: "Nur wer Einfluss auf die politische Willensbildung hat, kann gegen das allgemeine Gewaltverbot verstoßen."

Ignoriert wird mit einer solchen Aussage eine Vereinbarung, die Deutschland auf dem Budapester KSZE-Gipfel 1994 unterzeichnet hat. Die Rede ist vom "Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit". In Paragraph 30 heißt es dort, "dass die Angehörigen der Streitkräfte nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind". Darüber legt der Paragraph 31 fest, "dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilen dürfen".

Inzwischen gibt es einen weiteren Versuch des Verteidigungsministeriums, das Leipziger Urteil zu relativieren. Im Intranet der Bundeswehr wurde jüngst eine so genannte "G1- / A1-Information" für Vorgesetzte zum Problem "Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen" verbreitet. Die Rechtsabteilung II 2 verdreht darin wesentliche Festlegungen der Bundesverwaltungsrichter in ihr
Gegenteil.

So ist in dem Urteil glasklar festgelegt, dass ein Soldat unter keinen Umständen daran gehindert werden darf, sich gemäß seinem Gewissen zu verhalten. Die Leipziger Richter: "Diesem Anspruch ist dadurch Rechnung zu tragen, dass ihm eine gewissenschonende Handlungsalternative bereitgestellt wird." Konkret könnte das bedeuten: Ein Luftwaffenpilot, der sich weigert, an einem vom UN-Sicherheitsrat nicht autorisierten Kampfeinsatz teilzunehmen, muss zu einem anderen, nicht beteiligten Geschwader versetzt werden. Oder: Wenn seine Religion einem muslimischen Bundeswehrsoldaten es verbietet, gegen seine Glaubensbrüder zu kämpfen, darf er nicht in den Einsatz befohlen werden. Die Ministerialjuristen sehen das aber ganz anders als die Bundesverwaltungsrichter und behaupten. Zitat: "Wenn die Zuweisung einer anderen Aufgabe nicht möglich ist, hat der Vorgesetzte die dienstlichen Erfordernisse gegen die mögliche Gewissensbeeinträchtigung abzuwägen."

Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteilsspruch das genaue Gegenteil gefordert. Von den Streitkräften definierte Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen, so die Richter, dürften eben gerade nicht gegenüber dem Grundrecht der Gewissensfreiheit abgewogen werden. Unbedingten Vorrang vor militärischen Erfordernissen hätten stets die sich aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an die Grundrechte sowie die allgemeinen Regeln des Völkerrechts.

Diese dürfen keinesfalls "durch ‚Abwägung’ in ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden, auch wenn dies politisch oder militärisch ... zweckmäßig erscheinen mag". Die grundgesetzlich geschützte Freiheit des Gewissens hat also absoluten Vorrang vor der Funktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Streitkräfte – und zwar selbst im Verteidigungsfall.

Damit aber will sich das Verteidigungsministerium nicht abfinden. Versucht wird, das rechtskräftige Leipziger Urteil zu unterminieren. Mit der Kommentierung und Umsetzung bewegt man sich dabei am Rande der Rechtsbeugung. Dies legt die Frage nahe, inwieweit sich dessen Leitung überhaupt noch an Recht und Gesetz dieser Republik gebunden fühlt. Bei einem solchen Rechtsverständnis ist es dann nicht verwunderlich, wenn sich auch Bundeswehrsoldaten – wie im Misshandlungsskandal von Coesfeld – grob rechtswidrig verhalten. Dabei sollte die Führung des Bundesverteidigungsministeriums doch eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen und sich strikt an höchstrichterliche Urteile halten.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.