Gewissensentscheidung nur für Spitzenoffiziere?
Wie das Verteidigungsministerium mit einem höchstrichterlichen Urteil umgeht
Gastbeitrag von Jürgen Rose
Ein für alle Mal stellte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Urteilsbegründung
klar: "Das Grundgesetz normiert eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte,
nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der
Streitkräfte." Doch so knochentrocken diese Formulierung, so überwältigend ihre
Wirkung im Verteidigungsministerium. Dort hatte offenbar niemand damit gerechnet, dass die
Richter einen Stabsoffizier der Bundeswehr vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung
freisprechen würden immerhin eine mit Gefängnis bedrohte Wehrstraftat. In seinem
auf rund 130 Seiten sorgfältig begründeten Urteil bescheinigte der 2. Wehrdienstsenat
dem angeschuldigten Major Florian Pfaff eine "an den Kategorien von Gut
und Böse orientierte Gewissensentscheidung". Diese sei von der
"erforderlichen Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit des für ihn ethisch
Gebotenen geprägt. Dagegen habe er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln können".
Mit ihrer Entscheidung haben die Bundesverwaltungsrichter die Heiligste Kuh der deutschen
Militärpolitik geschlachtet: den angeblich unantastbaren Primat der Politik. Dieser
Grundsatz gilt nur innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, während jenseits davon der
Primat des Gewissens herrscht. Das ist die Kernaussage des Leipziger Urteils.
Doch diese höchstrichterliche Entscheidung trifft bei den Wehrjuristen auf heftigen
Widerspruch. So fragt ein Ministerialrat namens Stefan Sohm in der "Neuen Zeitschrift
für Wehrrecht" prompt: "Vom Primat der Politik zum Primat des
Gewissens?"
In dasselbe Horn bläst ein nach dem Leipziger Urteil herausgegebenes Papier der
Rechtsabteilung I 5 des Ministeriums. Es wendet sich an die Rechtsberater und Rechtslehrer
der Bundeswehr. Diese beraten Kommandeure, Dienststellenleiter und andere militärische
Vorgesetzte. Das Dokument dient als offizielle Handlungsanweisung für den "Umgang
mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissengründen Befehle nicht befolgen
wollen".
Zentrale Aussagen des Papiers sind aus fachjuristischer Sicht unhaltbar und stehen im
Widerspruch zur Leipziger Entscheidung. Z. B. die Aussagen zum Thema Angriffskrieg. Der
Angriffskrieg wird zwar vom Grundgesetz verboten und vom Strafgesetz sanktioniert. Dennoch
darf sich laut Verteidigungsministerium der gemeine Soldat darauf nicht berufen. Denn, so
heißt es wörtlich in dem Papier für die Bundeswehr-Rechtsberater: "
diesem
Verbot unterfallen nur Soldaten oder Soldatinnen, die als sicherheits- und
militärpolitische Berater ... eine herausgehobene Funktion im Regierungsapparat
ausüben." Anders ausgedrückt: Soldaten mit niederen Dienstgraden können sich nicht
auf das im Grundgesetz verankerte Verbot des Angriffskrieges berufen. Auf den Punkt
gebracht heißt das: Nur dem General ist der Angriffskrieg verboten. Sollte er sich aber
nicht daran halten: der Gefreite und andere Untergebene müssten dann in jedem Fall dabei
mitmachen eine geradezu absurde Rechtskonstruktion!
In sich völlig widersprüchlich sind auch andere Aussagen des Dokuments. Die
Ministerialjuristen stellen zunächst fest, dass so wörtlich "Befehle,
die im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts stehen, unverbindlich
[sind]
Untergebene ...[dürfen] solche [Befehle] nicht befolgen". Die Soldaten
müssten vielmehr "... die allgemeinen Regeln des Völkerrechts beachten".
Dieselben Autoren behaupten jedoch wenige Zeilen später, das im Völkerrecht fixierte,
unabdingbar zwingende Gewaltverbot habe für den einzelnen Bundeswehrsoldaten rechtlich
keine Bedeutung.
Gleiches gelte für das im Artikel 26 des Grundgesetzes sowie im Paragraphen 80 des
Strafgesetzbuches festgeschriebene Verbot, einen Angriffskrieg vorzubereiten oder sich an
einem solchen zu beteiligen. Die abwegige Begründung der Wehrjuristen: "Nur wer
Einfluss auf die politische Willensbildung hat, kann gegen das allgemeine Gewaltverbot
verstoßen."
Ignoriert wird mit einer solchen Aussage eine Vereinbarung, die Deutschland auf dem
Budapester KSZE-Gipfel 1994 unterzeichnet hat. Die Rede ist vom "Verhaltenskodex zu
politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit". In Paragraph 30 heißt es dort,
"dass die Angehörigen der Streitkräfte nach dem innerstaatlichen und dem
Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind". Darüber legt der
Paragraph 31 fest, "dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der
Streitkräfte Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht
verstoßen, nicht erteilen dürfen".
Inzwischen gibt es einen weiteren Versuch des Verteidigungsministeriums, das Leipziger
Urteil zu relativieren. Im Intranet der Bundeswehr wurde jüngst eine so genannte
"G1- / A1-Information" für Vorgesetzte zum Problem "Gehorsamsverweigerung
aus Gewissensgründen" verbreitet. Die Rechtsabteilung II 2 verdreht darin
wesentliche Festlegungen der Bundesverwaltungsrichter in ihr
Gegenteil.
So ist in dem Urteil glasklar festgelegt, dass ein Soldat unter keinen Umständen daran
gehindert werden darf, sich gemäß seinem Gewissen zu verhalten. Die Leipziger Richter:
"Diesem Anspruch ist dadurch Rechnung zu tragen, dass ihm eine gewissenschonende
Handlungsalternative bereitgestellt wird." Konkret könnte das bedeuten: Ein
Luftwaffenpilot, der sich weigert, an einem vom UN-Sicherheitsrat nicht autorisierten
Kampfeinsatz teilzunehmen, muss zu einem anderen, nicht beteiligten Geschwader versetzt
werden. Oder: Wenn seine Religion einem muslimischen Bundeswehrsoldaten es verbietet,
gegen seine Glaubensbrüder zu kämpfen, darf er nicht in den Einsatz befohlen werden. Die
Ministerialjuristen sehen das aber ganz anders als die Bundesverwaltungsrichter und
behaupten. Zitat: "Wenn die Zuweisung einer anderen Aufgabe nicht möglich ist, hat
der Vorgesetzte die dienstlichen Erfordernisse gegen die mögliche
Gewissensbeeinträchtigung abzuwägen."
Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteilsspruch das genaue Gegenteil
gefordert. Von den Streitkräften definierte Bedarfs-, Effektivitäts- oder
Funktionsanforderungen, so die Richter, dürften eben gerade nicht gegenüber dem
Grundrecht der Gewissensfreiheit abgewogen werden. Unbedingten Vorrang vor militärischen
Erfordernissen hätten stets die sich aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an
die Grundrechte sowie die allgemeinen Regeln des Völkerrechts.
Diese dürfen keinesfalls "durch Abwägung in ihrem Geltungsgehalt und
-anspruch gelockert werden, auch wenn dies politisch oder militärisch ... zweckmäßig
erscheinen mag". Die grundgesetzlich geschützte Freiheit des Gewissens hat also
absoluten Vorrang vor der Funktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Streitkräfte
und zwar selbst im Verteidigungsfall.
Damit aber will sich das Verteidigungsministerium nicht abfinden. Versucht wird, das
rechtskräftige Leipziger Urteil zu unterminieren. Mit der Kommentierung und Umsetzung
bewegt man sich dabei am Rande der Rechtsbeugung. Dies legt die Frage nahe, inwieweit sich
dessen Leitung überhaupt noch an Recht und Gesetz dieser Republik gebunden fühlt. Bei
einem solchen Rechtsverständnis ist es dann nicht verwunderlich, wenn sich auch
Bundeswehrsoldaten wie im Misshandlungsskandal von Coesfeld grob
rechtswidrig verhalten. Dabei sollte die Führung des Bundesverteidigungsministeriums doch
eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen und sich strikt an höchstrichterliche Urteile
halten.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt
in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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