Vortrag bei der Winterakademie des Deutschen Journalistenverbandes (DJV)
Sarajevo, März 2005


Recherchieren am Extrem - das Massaker von Srebrenica

Huub Jaspers

1. Vorbemerkungen

Den Titel für meinen Vortrag, den das DJV-Bildungswerk mir gegeben hatte, habe ich mit Ausnahme eines Wortes übernommen, weil er prägnant umreisst, was ich referieren will. Das einzige Wort, das ich nicht übernommen habe, ist das Wort "Völkermord". Ich weiss, dass dieser Begriff oft benutzt wird, um das Massaker von Srebrenica zu qualifizieren. Aber ich bezweifle, ob das richtig ist. Ich bin kein Jurist. Aber in der gängigen niederländischen Defintion (Van Dale, S. 889) bedeutet Völkermord bzw. Genozid: "die systematische Vernichtung eines Volkes oder einer Volksgruppe".

Ich glaube, die Trennung der Frauen und Kinder von den Männern in Srebrenica zeigt, dass es hier nicht um Genozid ging. Vorwiegend die Männer von Srebrenica wurden bei den anschliessenden Massenexekutionen ermordet, wohl weil sie als Kämpfer angesehen wurden. Es war ein grausames Kriegsverbrechen, ein grosses Massaker mit tausenden Opfern. Aber mit dem Begriff ‘Völkermord’ möchte ich dennoch zurückhaltend sein. ‘Srebrenica’ ist - bei aller Grausamkeit und trotz des Umfangs des Massakers - meines Ermessens etwas anderes als der Holocaust und auch etwas anderes als der Völkermord in Ruanda 1994. Der Titel meines Vortrags lautet demnach: "Recherchieren am Extrem – das Massaker von Srebrenica"

Wir, das heisst die Radiosendung ‘Argos’, haben in den nun gut neun Jahren seit dem Srebrenica-Drama über zwanzig Dokumentarsendungen zu diesem Thema gemacht, zu einem bedeutenden Teil gestützt auf aufwändige eigene Recherchen. Das möchte ich darstellen und in Relation setzen zu den zahlreichen - zum Teil sehr umfangreichen - offiziellen Untersuchungen, die es zu diesem Drama gegeben hat.

Selbstkritisch möchte ich vorab vor allem eines anmerken: obwohl es Argos seit 1992 gibt, wurde unsere erste Srebrenica-Sendung erst am 1. September 1995, also über sechs Wochen nach dem Fall der Enklave, gesendet. Wir waren in den dramatischen Juli-Tagen 1995 nicht in Srebrenica. Und das gilt auch für die Kollegen meiner Rundfunkanstalt VPRO und für alle anderen Journalisten und Medien der Niederlande und der internationalen Gemeinschaft.

 

2. Vom idyllisch gelegenen Silberstädtchen zum Ort des Schreckens

"Srebrenica: altes, in einem tiefen Tal verstecktes, Silberstädtchen, idyllisch gelegen, umringt von mit Buchen bewaldeten Bergen, 6.000 Einwohner."

So eine Touristenwerbung aus dem Jahre 1990. Aber wer hatte vorher je von diesem Ort gehört? Ich nicht, obwohl ich 1989, auf einer meiner Rucksack-Reisen quer durch das damals noch bestehende Jugoslawien fast daran vorbeigekommen war, und zwar bei einer Reise von Osijek im Norden des heutigen Kroatiëns nach Mostar im heutigen Bosniën. Zur Vorbereitung dieses Vortrags habe ich es nochmal in dem Jugoslawien-Reiseführer, den ich damals in meinem Rucksack hatte, nachgeschaut: der Ort Srbrenica kommt darin nicht vor.

Heute ist der Name Srebrenica weltbekannt. Es ist ein Schreckensname, der für eines der grössten Kriegsverbrechen steht, die es nach dem zweiten Weltkrieg in Europa gegeben hat. Wieviele Tote es genau gab, ist nicht bekannt. Geschätzt wird, dass es 7.000 bis 8.000 waren. Die Identifizierung der bisher in Massengräbern gefundenen Leichen ist noch nicht abgeschlossen - neuneinhalb Jahre nachdem die muslimische Enklave im Osten Bosniens im Juli 1995 einem serbischen Angriff zum Opfer fiel. Ein beträchtlicher Teil der Opfer wurde bei standrechtlich Massenexekutionen erschossen.

Der Name Srebrenica steht für das Versagen der Vereinten Nationen, denn seit März 1993, als der französische General Morillon Srebrenica besuchte und von der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung festgehalten wurde (s. NIOD, S.1218), war das Städtchen mit ein paar umliegenden Dörfern von der UNO zur ‘Safe Area’ erklärt worden. Die Einwohnerzahl stieg von 6.000 auf etwa 40.000. Beaufsichtigt wurde die UNO-Schutzzone von etwa 450 leicht-bewaffneten niederländischen Blauhelmen. Die Kanonen auf den sechsrädrigen Panzerfahrzeugen, die sie dabei hatten, waren speziell für die Mission in Srebrenica abmontiert und durch leichtere Maschinengewehre ersetzt worden. Es war schliesslich eine Friedensmission.

Dutchbat (Dutch Battalion), so hiess das niederländische Bataillon in Srebrenica, konnte in den dramatischen Tagen im Sommer 1995 dann auch nicht viel mehr tun als tatenlos zusehen wie die bosnischen Serben am 6. Juli ihren Angriff starteten, die gesamte Enklave innerhalb weniger Tage eroberten, Frauen und Kinder deportierten und einen grossen Teil der Männer zur Massenexekution abführten. Nicht nur Dutchbat, sondern die gesamte UNO sah zu und tat nichts. Nach mehreren vergeblichen Anforderungen von Luftunterstützung bei der UNO-Führung durch den Dutchbat-Kommandeur Ton Karremans warfen zwei niederländische F-16-Kampfflugzeuge je zwei Bomben ab. Dabei wurde ein serbischer Panzer vernichtet. Das war’s.

 

3. Offizielle Untersuchungen im Überfluss

Der Fall der muslimischen Enklave Srebrenica ist intensiv untersucht worden, national wie international. Es gab:

  • einen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen selbstkritischen UNO-Bericht;
  • Recherchen des Jugoslawien-Tribunals;
  • einen Srebrenica-Untersuchungsausschuss des französischen Parlaments;
  • einen Bericht der Regierung der Republika Srpska;
  • einen von Belgrad in Auftrag gegebenen Bericht der serbischen Wahrheitskommission.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich hier nur offizielle Berichte, Untersuchungsberichte von Nichtregierungsorganisationen und eine ganze Reihe von Büchern zum Thema Srebrenica lasse ich ausser Acht.

In den Niederlanden gab es mindestens sechs umfangreiche offizielle Untersuchungen zum Fall Srebrenica:

  • den ‘Debriefings’-Bericht des Verteidigungsministeriums (Oktober 1995)
  • den Bericht der ‘Kommission Van Kemenade’ (September 1998)
  • Staatsanwaltliche Ermittlungen zur Frage, ob Dutchbatler oder andere niederländische Militärangehörige oder Beamte strafbare Handlungen im Zusammenhang mit Srebrenica begangen haben (diverse Male zwischen 1995 und 2001)
  • den Bericht der vorläufigen parlamentarische Untersuchungskommssion ‘Bakker’ (September 2000)
  • den Bereicht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD-Bericht, April 2002) und
  • den Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (Januar 2003)

Die bedeutendste und mit gut 6.000 Seiten auch umfangreichste Studie legte das NIOD vor, das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation. 1996 bekam dieses Institut, das bis dahin fast ausschliesslich zum zweiten Weltkrieg geforscht hatte, von der niederländischen Regierung den Auftrag, den Fall von Srebrenica zu untersuchen. Als das NIOD gut fünf Jahre später seinen mit Spannung erwarteten Bericht am 10. April 2002 vorlegte, atmete der damalige Premierminister Kok zunächst erleichtert auf. Das NIOD hatte nämlich relativ milde über das Versagen von Dutchbat geurteilt. Jedoch entstand in den darauffolgenden Tagen innerhalb der Regerierung eine heftige Diskussion über die Frage, inwiefern die Niederlande mitverantwortlich war für das Srebrenica-Drama, und auch über die Qualität der NIOD-Studie.

Sechs Tage später, am 16. April 2002 trat dann die gesamte niederländische Regierung zurück, nachdem zuvor sowohl der liberale Verteidigungsminister De Grave als auch der sozialdemokratische Umweltminister Pronk angedeutet hatten, sie wollten zurücktreten. In der Weltpresse wurde die niederländische Regierung hierfür gelobt. Jedoch möchte ich als niederländischer Bürger dazu anmerken, dass die Tage der Regierung sowieso gezählt waren, weil ein paar Monate später Wahlen anstanden. Ausserdem ist es in gewisser Weise kurios, dass nun, fast sieben Jahre nach dem Srebrenica-Drama die gesamte Regierung zurücktrat, während 1995, nachdem das Ausmass des Massakers und auch des Versagens klar war, noch nicht einmal der damalige Verteidigungsminister Joris Voorhoeve den Hut nahm.

 

4. "Wiederherstellung des Misstrauens"

Bei einem Thema, das bereits so intensiv untersucht wird, von Regierungen und Instanzen wie der UNO beauftragt, mit einem grossen Aufwand an Arbeitskraft und Mitteln, bleibt für die Recherche von Journalisten nicht viel Spielraum. Das haben viele unserer Kollegen damals gedacht und zugegebenermassen manchmal auch wir selbst. Wir haben es dennoch gemacht, was uns diverse Male an den Rand der Verzweiflung brachte.

Eine zutreffende Antwort auf die Frage, warum wir recherchiert haben, gab es in einer Kolumne in der tonangebenden Tageszeitung ‘NRC Handelsblad’ im Juni 2001. Die Autorin Elsbeth Etty schrieb damals, die Recherchen von Argos sowie der Fernsehsendung NOVA zum mysteriösen Verschwinden eines Srebrenica-Films beim militärischen Nachrichtendienst MID hätten gezeigt, dass eine "Wiederherstellung des Misstrauens" notwendig sei. "Wiederherstellung des Misstrauens" lautete auch der Titel der Kolumne. In provozierenden Worten schrieb die Autorin Etty, die heute auch Professor an der Freien Universität Amsterdam ist: "Argwohn, Unglaube und Skepsis brauchen wir. Der amerikanische Journalist I.F. Stone sagte, dass ‘jede Regierung aus Lügnern besteht. Nichts was sie sagen, dürfen wir glauben’. Er hatte Recht. Wir sind viel zu gutgläubig."

Anlass für diese bösartigen Worte war eine Argos-Sendung, in der wir aufgezeigt hatten, dass eine von der Regierung im Sommer 1998 beauftragte Untersuchungskommission, die ‘Kommission Van Kemenade’, trotz der weit über 1.000 Seiten, die sie produziert hatte, keineswegs eine überzeugende Arbeit auf den Tisch gelegt hatte. Im Widerspruch zur Schlussfolgerung von van Kemenade war mit seiner Untersuchung keineswegs bewiesen, dass es nach dem Fall von Srebrenica keine bewusste Vertuschung seitens des niederländischen Verteidigungsministeriums gegeben hatte. "Argos hat überzeugend dargelegt, dass die ‘Kommission Van Kemenade’ selbst Teil der Vertuschungsoperation war." So ein Zitat aus der Kolumne der Publizistin Etty. Und ein weiterer Satz aus ihrer NRC-Kolumne: "Van Kemenade ist – dank dem journalistischem Misstrauen von ARGOS und NOVA – völlig unglaubwürdig geworden."

 

5. Ein verschwundener Film als Symbol der Vertuschung

Worum ging es konkret? Bereits im Sommer 1995, unmittelbar nach dem Fall der muslimischen Enklave, tauchten in der Presse vage Berichte auf, ein von einem Dutchbat-Offizier in Srebrenica gemachter Film mit Fotos sei durch einen menschlichen Fehler bei der Entwicklung in einem Fotolabor des niederländischen Nachrichtendienstes MID vernichtet worden. Diese Berichte machten uns stutzig. Wir suchten das Gespräch mit ehemaligen Dutchbatlern und stiessen auf das Gerücht, der Macher des Films gehe davon aus, sein Film sei bewusst vernichtet worden oder in einem Geheimtresor gelandet. Allerdings blieb lange unklar, wie das geschehen sein könnte und was genau auf dem Film zu sehen war. Sogar den Namen des Machers bekamen wir trotz intensiver Suche zunächst nicht heraus.

Unser Instinkt sagte uns, dass hinter diesem Film eine grosse Geschichte steckte. Uns war aber auch klar, dass es ein höchst sensibles Thema war, dass wohl auch allen Beteiligten die Brisanz klar sein würde und dass wir deshalb viel Ausdauer und Geduld benötigen würden. Dass es so lange dauern würde, hatten wir anfangs jedoch nicht gedacht. Erst nach etwa einem Jahr hatten wir den Namen des Fotographen herausgefunden: Leutnant Ron Rutten. Etwa zur gleichen Zeit kamen wir ins Gespräch mit General ausser Dienst Hans Couzy, der 1995 oberster Befehlshaber der niederländischen Landstreitkräfte war. Er erzählte uns, dass er persönlich gesehen hatte, dass der militärische Nachrichtendienst bereits bei der Ankunft der Dutchbatler in Zagreb versucht hatte, den Film in die Hände zu bekommen. Das war ein Schritt voran. Aber dabei blieb es vorerst.

Nach vielen ergebnislosen Versuchen, bekamen wir dann im Frühjahr 1998 von einem Insider, einem hochrangigen Offizier, neue Details. Entscheidend dabei war, dass er uns erzählte, was genau auf dem Film zu sehen war. Bis dahin hatten wir nur gehört, es seien die Leichen muslimischer Opfer gefilmt worden. Doch nun bekamen wir zu hören, dass auf den Fotos auch Dutchbat-Soldaten zu sehen waren. Dutchbat-Soldaten, die aktiv mithalfen bei der Deportation der Frauen und Kinder aus Srebrenica. Mit dieser Inmformation war uns klar, dass es ein Motiv gegeben hatte, den Film verschwinden zu lassen. Unser Informant sagte uns, die Militärführung und die Spitze des Verteidigungsministerium hätten damals Angst gehabt, die Foto’s könnten in die Presse, möglicherweise sogar in der Weltpresse, gelangen und das Ansehen der niederländischen Streitkräfte noch mehr beschädigen als schon geschehen war.

Das klang plausibel. Die Bilder von feiernden, tanzenden, Bier-trinkenden Dutchbat-Soldaten in Zagreb, unmittelbar nach ihrem Abzug aus Srebrenica, gingen um die Welt. Und das Foto auf dem Dutchbat-Kommandeur Oberstleutnant Ton Karremans sein Glas hebt mit dem Serben-General Mladic, taucht sogar heute noch hin und wieder in der Weltpresse auf - wie vor ein paar Monaten im Spiegel. Dabei sind die Bild-Unterschriften und die dazugehörigen Verurteilungen schnell geschrieben und es werden die extremen Umstände, unter denen sich diese Szenen abspielten, meist weitgehend ausgeklammert. Zur Erinnerung:

  • Dutchbat war monatelang in Srebrenica eingeschlossen, zunehmend abgeschlossen von der Versorgung mit Munition, Benzin und Lebensmitteln.
  • Die 450 niederländischen Soldaten waren den angreifenden serbischen Truppen sowohl quantitativ wie qualitativ hoffnungslos unterlegen.
  • Blauhelme wurden als lebende Geiseln festgekettet an Objekte, die möglicherweise von NATO-Flugzeugen hätten bombardiert werden können.
  • Auch die bedrohten Muslime in der Enklave verhielten sich unter den gegebenen Umständen nicht gerade freundlich den niederländischen Soldaten gegenüber. Einer der Dutchbatler, Raviv van Rensen, wurde am 8. Juli 1995 von einer von muslimischen Kämpfern geworfenen Handgranate getötet. Die Muslime wollten verhindern, dass die Dutchbat-Soldaten sich gegenüber den vorrückenden Serben aus einer Stellung zurückziehen würden.
  • Auf dem Dutchbat-Gelände in Potocari sassen im Juli 1995 zigtausende Flüchtlinge in panischer Angst zusammengepfercht. Darunter viele Kinder, Frauen, Alte und Kranke – ohne medizinische Versorgung und Lebensmittel. Dabei rückten die bosnischen Serben immer näher.
  • Die mehrfachen Anfragen von Luftunterstützung durch den Dutchbat-Kommandeur Karremans hatten sich in der UNO-Bürokratie in Luft aufgelöst.
  • Auch nicht verschwiegen werden sollte, dass muslimische Kämpfer aus der Enklave heraus Raubzüge in den umringenden serbischen Dörfern gehalten hatten. Auch dabei hatte es Massenmorde und Vergewaltigungen gegeben.

Das macht die Worte von Oberstleutnant Karremans bei einer Pressekonferenz, in Srebrenica habe es keinen eindeutigen Unterschied zwischen ‘Good Guys’ und ‘Bad Guys’ gegeben, nicht weniger unglücklich aber begreiflich. All die hier oben genannten Umstände sollte man vor Augen haben, bevor man ein Urteil darüber abgibt, dass ein paar der Dutchbatler, nachdem sie heil aus der Hölle von Srebrenica raus waren, in Zagreb erstmal Dampf ablassen mussten. Viele der Dutchbatler hatten damals allerdings gar keinen Bock auf Feiern und Bier. Bilder davon gelangten natürlich nicht in die Weltpresse.

Auch wissen sollte man, dass mindestens jeder fünfte der 450 Dutchbatler später ernsthafte psychische Probleme bekommen hat. Manche landeten in Alkohol- und Drogensucht oder in der Kriminalität. Und bei einigen war das Srebrenica-Trauma so gross, dass sie sich das Leben nahmen. Genaue zuverlässige Zahlen gibt es nicht. Es gibt auch ehemalige Dutchbatler, die noch regelmässig nach Bosnien zurückkommen, zum Beispiel um im Urlaub zu helfen beim Wiederaufbau. Der ehemalige Kommandeur Karremans, als Oberst pensioniert, lebt in Spanien. Er hat, wie er selbst sagt, "als Flüchtling" die Niederlande verlassen.

Doch zurück zu unserer Geschichte und zum Verschwinden des Films. Im Frühjahr 1998 wussten wir also, welche komprimittierenden Bilder auf dem Film waren. Wir kannten den Namen des Fotographen, seine Privatadresse und hatten ein paar Mal kurz mit ihm gesprochen. Einmal hatten wir sogar unangekündigt vor seiner Haustür gestanden. Aber er wollte zum damaligen Zeit auf keinen Fall über seine Srebrenica-Erfahrungen mit uns reden. Bei unserem dritten Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, sagte er nur, er habe in der Zwischenzeit beim Verteidigungsministerium um Erlaubnis gebeten, doch das habe ihm jegliches Gespräch mit Journalisten untersagt.

Den Fotographen selbst konnten wir also zum damaligen Zeitpunkt nicht zum Reden bringen. Aber dafür bekamen wir aus einer zweiten, anonym zu haltenden, aber glaubwürdigen Quelle Bestätigung für die Informationen, die wir hatten. Nach Abstimmung mit der Direktion unserer Rundfunkanstalt entschieden wir uns, die Geschichte zum dritten Jahrestag des Falls der Enklave zu senden. Das war am 10. Juli 1998.

Die Sendung schlug ein wie eine Bombe. Der verschwundene Film wurde zum Symbol für die Vertuschungen, die es nach dem Fall von Srebrenica gegeben hatte. Noch am gleichen Abend brachte NOVA unsere Geschichte gross im Fernsehen, mit O-Tönen aus unserer Sendung und einem laufendem Tonband im Bild. Der Sprecher der christdemokratischen Fraktion im Parlament sass im Studio und kommentierte live. Er hatte gleich nach unserer Sendung mit dem Fotofraphen, Dutchbat-Leutnant Ron Rutten, telefoniert. Der fühlte sich nun bestärkt und konnte nicht länger schweigen. Er bestätigte unsere Geschichte mit allen Details und erschien in den Wochen danach sogar selbst im Fernsehen.

Was war geschehen? Leutnant Rutten war wütend als er im Juli 1995 sah, dass einige seiner Dutchbat-Kollegen beim Abtransport der muslimischen Bevölkerung aus Srebrenica behilflich waren. Er sah dies als Hilfeleistung bei einer ethnischen Säuberung. Auch er sah ein, dass Dutchbat nicht viel an aktivem Widerstand leisten konnte. Aber er war der Ansicht, Dutchbat solle sich in der gegebenen Situation darauf beschränken, das Geschehen so genau wie möglich zu beobachten und zu dokumentieren. Er fotografierte deshalb, wie seine Kollegen den Frauen und Kindern behilflich waren beim Einsteigen in die von den Serben organisierten Bussen.

Unter grossen Sicherheitsrisiko’s schmuggelte Rutten den Film an den Serben vorbei nach Zagreb. Dort sprach er mit dem damaligen Chef der Landstreitkräfte General Couzy über seinen Film. Ein Mitarbeiter des Nachrichtendienstes MID bat Rutten, ihm den Film zu übergeben. Rutten lehnte dies jedoch ab und nahm den Film in seinem Gepäck mit in die Niederlande. Am Flughafen in Soesterberg versuchte der MID erneut den Film von Rutten in die Hände zu bekommen. Aber durch die chaotische Situation am Flughafen misslang dies.

Am nächsten Tag meldete sich dann ein Mitarbeiter des MID an der Haustür von Rutten, um den Film abzuholen. Der Film sei ein wichtiges Beweisstück. Deshalb müsse sichergestellt werden, dass bei der Entwicklung nichts schief gehen könne und würde er ihn zu einem Fotolabor des Nachrichtendienstes nach Den Haag bringen. Rutten liess sich überzeugen und gab den Film ab. Am nächsten Tag bekam er einen Anruf aus Den Haag. Der Film sei durch einen Fehler eines Labormitarbeiters falsch entwickelt worden. Die Foto’s seien dabei leider komplett vernichtet worden.

Unsere Geschichte, die wie gesagt abends auch gross im Fernsehen lief, in der Sendung NOVA, sorgte für Schlagzeilen. In den Tagen und Wochen danach – wir selbst hatten wegen der Sommerpause leider keine Sendezeit mehr - folgten eine Reihe von NOVA-Sendungen, in denen aufgezeigt wurde, dass der Debriefings-Bericht, der im Oktober 1995 vom Verteidigungsministerium an das Parlament geschickt worden war, eine äusserst einseitige Version war, aus der viele unliebsame Details, über die Dutchbatter berichtet hatten, gestrichen worden waren.

In der Öffentlichkeit entstand das Bild einer grossen Vertuschungsoperation. Dabei schossen einige unserer Kollegen unserer Ansicht nach allerdings über das Ziel hinaus, in dem sie Dutchbatler in die Nähe von Kriegsverbrechern rückten. In der ersten Sendung nach der Sommerpause, haben wir deshalb einige der Beschuldigten zu Wort kommen lassen und erklären lassen, aus welchen Gründen sie die muslimischen Frauen und Kinder beim Einsteigen in die serbischen Busse unter die Arme gepackt hatten.

Im NIOD-Bericht, also dem von der Regierung in Auftrag gegebenen Srebrenica-Bericht, liesst sich dies wie folgt (S. 3012): "1998 brach ein grosses Medienspektakel los. Anders als 1995 gab es diesmal jedoch fundierte Recherchen. Es begann am 10. Juli 1998 mit einer Argos-Radiosendung." Und (S. 3058): "Argos und die dadurch inspirierte Fernsehsendung NOVA schürten Zweifel über den misslungenen Film. Anfragen im Parlament waren die Folge. Von diesem Zeitpunk an schlugen die nachfolgenden NOVA-Sendungen beim Verteidigungsministerium ein wie Meteorieten." Und (S. 3010): "Der misslungene Film wurde zum Symbol einer viel grösseren Vertuschung und einer Manipulation seitens des Staates, insbesondere seitens des Verteidigungsministeriums, mit dem Ziel unliebsame Informationen unter den Teppich zu kehren." Das sind klare Worte aus dem Jahr 2002. Doch zunächst nochmal zurück zum Sommer 1998

In den Niederlanden hatte es Wahlen gegeben und es wurde eine neue Regierung gebildet. Als eine der ersten Amtshandlungen rief der neue Verteidigungsminister Frank de Grave im August eine Kommission unter Führung des sozialdemokratischen Politikers Jos van Kemenade ins Leben. Diese so genannte ‘Kommssion Van Kemenade’ bekam den Auftrag zu untersuchen, ob es im Zusammenhang mit dem Srebrenica-Drama Vertuschungen gegeben habe. Bereits Ende September, also nicht mal zwei Monate nach Beginn seiner Untersuchungsarbeit, legte van Kemenade seinen Bericht vor und schlussfolgerte: es gab beim Verteidigungsministerium viele Mängel und Fehler. Aber es gab keine bewusste Vertuschung!

In zwei darauffolgenden Argos-Sendungen haben wir aufgezeigt, dass van Kemenade’s Bericht einer kritischen Überprüfung nicht standhalten konnte. Zwar rief er Journalisten gegenüber: "Nun vergesst doch endlich mal diesen Film!" Aber anders als van Kemenade suggerierte, hatte seine Kommission die Vernichtung dieses Films gar nicht untersucht. Dies konnten wir in einem Interview mit van Kemenade selbst blosslegen. Daraufhin entschieden wir uns, eine Rekonstruktion zu machen. Auf der Grundlage der Protokolle der zuständigen Militärpolizei rekonstruierten wir in einem Fotolabor haargenau, was sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft am 26. Juli 1995 in dem Fotolabor des militärischen Nachrichtendienstes in Den Haag abgespielt hatte. Wir taten dies akribisch, mit genau der gleichen Maschine, dem gleichen Film, den gleichen Mengen an Chemikalien, den gleichen Abläufen. Und was war das Ergebnis? Ein Film, auf denen die Abbildungen zwar nicht optimal waren, jedoch gut zu erkennen. Der Film von Leutnant Rutten war den offiziellen Verlautbarungen zufolge indes völlig blanko.

 

6. Dutchbat und die Panzer der Dänen

Sowohl der von der Regierung beauftragte NIOD-Bericht (April 2002) als auch der anschliessende Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (Januar 2003) sind sehr kritisch mit der Arbeit der ‘Kommssion Van Kemenade’ (September 1998). Beide Untersuchungen konnten jedoch keine Beweise zutage bringen, dass der Film von Leutnant Rutten, mittlerweile Hauptmann Rutten, bewusst vernichtet worden war.

Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss selbst, der sich eine sehr eingeschränkte Aufgabenstellung gestellt hatte, und die NIOD-Studie mussten heftige Kritik über sich ergehen lassen. Das NIOD, das dem eigenen Anspruch nach eine wissenschaftliche Studie erstellt hat, bekam diese Kritik vor allem von Historikern und anderen Wissenschaftlern zu hören. Aber auch wir, Argos, haben uns in die Diskussion über die Wahrheitsfindung durch das NIOD eingemischt.

Schlagwortartig ein paar der kritischen Kommentare zur NIOD-Studie:

  • "Die Forscher sind in die Rolle der Freisprecher geraten." (Historiker Prof. M.C. Brands, VK, 19.4.2002)
  • "Eine Überdosis an Informationen führt auch zur Desinformation." (Historiker T. Nijhuis, Direktor des Deutschland Instituts an der Universität von Amsterdam)
  • "Es wird kaum unterschieden zwischen Fakten und Interpretationen." (Prof. A. van Iersel, Katholische Universität Brabant)
  • "Nirgendwo zeigt sich, dass man zuvor eine durchdachte Fragestellung entwickelt, eine Interpretationsstruktur entworfen und einen Zusammenhang realisiert hat." (Soziologe J.A.A. van Doorn)]

Am 10.April 2002 wurde die mit grosser Spannung erwartete NIOD-Studie, begleitet von einer stundenlangen live-Fernsehsendung, durch den NIOD-Direktor Blom präsentiert. Fünf Tage davor, also am 5. April, sendeten wir eine Geschichte, die sich in den ersten Monaten des Jahres 1995 in New York abgespielt hatte, die eine der wichtigsten Schlussfolgerungen des NIOD in Frage stellte und die in den über 6.000 vom NIOD produzierten Seiten an keiner Stelle auch nur Erwähnung findet.

Im März 1995 häuften sich im DPKO in New York, im Department of Peace Keeping Operations, salopp gesagt: das Verteidigungsministerium der UNO, die Hinweise darauf, dass die bosnischen Serben Vorbereitungen trafen für eine Eliminierung der muslimischen Enklave Srebrenica. Die Militärs im DPKO-Stab überlegten, welche militärischen Optionen es gab, dieser Drohung entgegen zu wirken. Ihnen war klar, dass das leicht-bewaffnete Dutchbat mit knapp 500 Mann keinen Widerstand bieten konnte.

Im Gegensatz zu den Niederländern hatten die dänischen Truppen, die in Tuzla - Luftlinie 70 Kilometer nordwestlich von Srebrenica – stationiert waren, zehn schwere, modernisierte Leopard-Panzer dabei. Mit denen hatten sie bereits erfolgreich zurückgeschossen als sie im April 1994 von den bosnischen Serben beschossen wurden. Seither kamen die von den Dänen begleiteten Konvois ohne Probleme durch. Die Konvois der Niederländer hingegen wurden immer wieder verzögert, gestoppt und ausgeraubt.

So entwickelten die Militärs im zuständigen DPKO-Stab einen Plan, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu schicken. In den Gängen des UNO-Hauptquartiers wurde dies tagelang beratschlagt - mit den Dänen, mit den Niederländern und mit den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats, vor allem mit den Franzosen, den Britten und den Amerikanern. In diesen Beratungen mit den Mitgliedern des Sicherheitsrats scheiterte das Vorhaben. Vor allem Madeleine Albright, die spätere US-Aussenministerin, damals noch amerikanische Botschafterin bei der UNO, lehnte den Plan ab.

Diese Geschichte scheint vielleicht nicht sonderlich spektakulär. Uns kostete es mehr als ein Jahr intensiver Recherchen und diverse aufwändige Reisen, um sie sendereif zu machen. Ihre Relevanz besteht vor allem darin, dass sie eine der zentralen Schlussfolgerungen des NIOD in Frage stellt. Und zwar folgende, jetzt zitiere ich in verkürzter Form die NIOD-Teilstudie zur Rolle der Nachrichtendienste (S.460): "Für Dutchbat und UNPROFOR war der Angriff (…) eine totale Überraschung. (…) Das gilt vermutlich auch für die meisten westlichen Nachrichtendienste. (…) Es bleibt natürlich Spekulation, aber nun ist evident, dass da es bei keinem der Betroffenen Vorkenntnisse gab, ein adäquates Reagieren von vorherein ausgeschlossen war."

Mit dieser eindeutig klingenden Schlussfolgerung war die NIOD-Studie übrigens auch in Einklang gebracht mit der Srebrenica-Studie der UNO aus dem Jahre 1999. Diese selbstkritische Analyse des UNO-Versagens besagte: "Hätte die UNO nachrichtendienstliche Vorinformationen gehabt, die die Ungeheuerlichkeit der bosnisch-serbischen Ziele offenbart hätten, wäre die Tragödie von Srebrenica möglicherweise zu verhindern gewesen."

Unsere Geschichte stellte somit eine der zentralen Schlussfolgerung sowohl der UNO als auch des NIOD in Frage. Denn der Plan, die dänischen Panzer zur Verteidigung von Srebrenica einzusetzen, enstand je erst aufgrund der Hinweise auf serbische Angriffsvorbereitungen, die sich spätestens seit März 1995, also gut drei Monate vor Beginn des serbischen Angriffs, zu häufen begannen - nicht nur bei der UNPROFOR-Führung in Zagreb, sondern auch im UNO-Hauptquartier in New York. Das beteuerte ein ehemaliger UNO-Spitzenfunktionär, der in unserer Sendung auch konkrete Beispiele der damals vorliegenden Erkenntnisse auflistete.

Wie haben wir diese Geschichte recherchiert und wie ist es dann weitergegangen? Es begann mit einem Gespräch während einer Reise, mit einer Person, die - wie sich erst im Laufe des Gesprächs herausstellte - im März 1995 als Offizier im DPKO arbeitete. Gegenstand des vertraulichen Hintergrundgesprächs war eigentlich etwas ganz anderes. Zufälligerweise fiel das Stichwort Srebrenica. Das was wir anschliessend zu diesem Thema zu hören bekamen, war äusserst geheim und wir mussten schwören, unsere Quelle unter allen Umständen zu schützen. Am Telefon, per E-mail oder Post konnten wir das Gespräch mit unserem Tipgeber deshalb auch auf keinen Fall fortsetzen.

Wir haben erst einmal genau aufgeschrieben und korrigieren lassen, was uns erzählt worden war. Alleine zum Korrigieren des bereits Gesagten mussten wir erneut auf Reisen gehen. Anschliessend haben wir eine Liste erstellt mit Leuten in verschiedenen Ländern, die von der Diskussion über die dänischen Panzer wissen mussten. Das Suchen der Namen und Telefonnummern kostete viel Zeit. Gleichzeitig fingen wir an, diese Liste abzuarbeiten und die Leute anzurufen. Dutzende waren es. Aber ohne jeglichen Erfolg. Niemand wusste etwas bzw. konnte sich erinnern. Ein paar unserer Gesprächspartner versuchten, uns davon zu überzeugen den Plan, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu bringen, könne es gar nicht gegeben haben, da dies dies unter den damaligen Umständen ein wahnwitziges Unterfangen gewesen wäre. Wir begannen nun selbst zu zweifeln. Selbstverständlich hatten wir überprüft, dass unser Tipgeber im Fühjahr 1995 tatsächlich als Offizier im DPKO gearbeitet hatte und wir waren auch nach wie vor davon überzeugt, dass er eine ernstzunehmende Quelle war. Aber wenn so viele Leute sagen: Blödsinn…?

Trotz der zunehmenden Unsicherheit entschieden wir uns, nach Kopenhagen zu fahren und dort Interviews zu machen mit dem damaligen dänischen Verteidigungsminister Hans Haekkerup und mit Oberst Lars Möller, der Kommandeur des dänischen Kontingents in Tuzla gewesen war. Möller hatte im April 1994 den Befehl gegeben, die Panzer einzusetzen als die dänischen Blauhelme beschossen wurden. Oberst Möller schilderte uns detailliert das stundelange Gefecht, dass er sich damals mit seinen serbischen Belagern geliefert hatte. Für sein entschlossenens Auftreten hatte er damals Beifall von hochrangigen UNO-Militärs bekommen. Erst viel später erfuhr Möller, dass bei dem Gefecht 150 Serben ums Leben gekommen waren, nach dem einer der dänischen Panzer ein serbisches Munitionslager getroffen hatte.

Bei den Interviewanfragen mit Oberst Möller und ex-Minister Haekkerup hatten wir die UNO-Diskussion, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu schicken, bewusst nicht erwähnt. Es schien uns – angesichts der Dutzende von Dementis, die wir bereits bekommen hatten – aussichtsreicher, wenn wir unsere Interviewpartner mit den Informationen, die wir hatten, überraschen würden. Es waren gute Interviews, mit vielen interessanten neuen Details. Aber an eine UNO-Diskussion, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu schicken, konnten auch diese beide Herren sich in keinster Weise erinnern – jedenfalls damals noch nicht, das heisst in den ersten Frühlingstagen von 2002. Wir standen kurz davor aufzugeben, zumal wir wussten, dass das NIOD am 10. April seine Studie vorlegen würde und wir unsere Geschichte unbedingt vorher senden wollten.

Am 2. April gelang es uns endlich, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Hintergrundgespräch mit dem ehemaligen Bundeswehrgeneral Manfred Eisele zu bekommen. Eisele war im Frühjahr 1995 einer der Chefs im DPKO in New York und sogar Assistant Secretary General der UNO gewesen, also einer der höchsten Funktionäre der UNO. Zu unserer Überraschung bestätigte Eisele uns fast einschränkungslos die Geschichte über die UNO-internen Diskussionen über die Verlegung der dänischen Panzer drei Monate vor dem Fall von Srebrenica. Nur an ein Gespräch zwischen Madeleine Albright mit Kofi Annan, bei dem die amerikanische UNO-Botschafterin es ablehnte, Luftunterstützung zu bieten bei der Überbringung der dänischen Panzer nach Srebrenica, konnte Eisele sich nicht erinnern. Dafür erzählte er uns, dass er damals persönlich mit französischen und britischen Diplomaten über das Vorhaben gesprochen hatte. Nach einigem Zögern stimmte Eisele sogar einem Interview auf Band zu. Das Interview machten wir am 3. April. Zwei Tage später haben wir die ganze Geschichte gesendet. UNO-Generalsekretär Kofi Annan hatte unsere Interviewanfrage abgelehnt und wollte keinerlei Kommentar geben. Die Sendung bekam nicht nur in den niederländischen Medien, sondern auch in einigen deutschsprachigen Zeitungen und Nachrichtensendungen ein Echo – in Deutschland selbst und in der Schweiz.

In unserer Sendung sagte Eisele unter anderem, dass es damals sehr wohl möglich gewesen wäre, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu bringen. "Die wären ungehindert dahin gefahren. Und dann hätte es das Massaker von Srebrenica nie gegeben." So Ex-Bundeswehrgeneral Manfred Eisele wörtlich in unserer Sendung vom 5. April 2002. Nachdem die Sendung gelaufen war, erinnerten sich plötzlich auch andere Leute, mit denen wir zunächst erfolglos gesprochen hatten, dass es die Diskussion über die Verlegung der dänischen Panzer nach Srebrenica gegeben hatte. Darunter auch einer unserer Interviewpartner in Dänemark, der uns dann sogar Namen nennen konnte von Militärs und Diplomaten, die damals an der Diskussion beteiligt waren.

 

7. Welche Vorkenntnisse hatten die Nachrichtendienste und die UNO?

Gut ein halbes Jahr später, am 1. November 2002, haben wir eine Sendung zu der Frage gemacht, wie das NIOD zu der Schlussfolgerung kommem konnte, dass die westlichen Nachrichtendienste keine relevanten Vorkenntnisse zur Eliminierung von Srebrenica gehabt hätten. In der NIOD-Studio selbst sind Dutzende der Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff dokumentiert, allerdings verstreut und unzusammenhängend. Sie werden in der Studie keineswegs widerlegt, sondern die NIOD-Forscher lassen sie im Schlusskapittel schlicht unter den Tisch fallen. Als ‘Belege’ gibt es lediglich Verweise auf Aussagen anonymer Gesprächspartner in den Fussnoten.

In unserer Sendung zu dieser Art der Wahrheitsfindung durch das NIOD interviewten wir die für die Geheimdienst-Teilstudie zuständigen NIOD-Forscher. Dabei konfrontierten wir sie unter anderem mit den Aussagen von General a.D. Manfred Eisele. "Das kann nicht stimmen", lautete die Reaktion des NIOD-Geheimdienst-Experten Cees Wiebus. "Wir haben Herrn Eisele auch interviewt und uns hat er nichts von alledem erzählt." Wir erwiderten, dass Eisele auch erst angefangen hatte zu reden, nachdem wir ihm gezeigt hatten, dass wir die Informationen über die UNO-interne Diskussion aus anderer Quelle schon hatten.

Aber auch das mochte die NIOD-Experten nicht überzeugen. Die amerikanischen Satellitenaufnahmen, die Eisele seiner Aussage in unserer Sendung nach bereits im Frühjahr 1995 zu sehen bekommen hatte, wurden laut Cees Wiebus vom NIOD erst im August 1995, also nach dem Fall der Enklave, erstmalig Nicht-Amerikanern überhaupt gezeigt. Das hatte ein hochrangiger amerikanischer Geheimdienst-Funktionär ihm persönlich gegenüber erklärt. Damit war für die NIOD-Forscher unsere gesamte Geschichte - und auch die Aussage des ehemaligen Bundeswehrgenerals und UNO-Spitzenfunktionärs Eisele - Blödsinn. Manfred Eisele selbst blieb bei seiner Aussage, dass er die amerikanischen Satellietenaufnahmen, auf denen serbische Vorbereitungen für den Angriff auf Srebrenica klar zu erkennen waren, bereits im März 1995 gesehen hatte. Nicht auf dem offiziellen UNO-Dienstweg, aber mit eigenen Augen.

Schon im Juni 2001 hatten wir eine Sendung gemacht zu der Frage: Was wussten die Nachrichtendienste über die serbischen Angriffsvorbereitungen zu welchem Zeitpunkt und was ist mit diesen Informationen geschehen? Auf der Grundlage von Geheim-Dokumenten aus den Archiven des niederländischen Nachrichtendienstes MID, hatten wir aufgezeigt, dass auch MID in den Wochen und Monaten vor dem Fall von Srebrenica über Berichte unter anderem aus der Enklave selbst heraus verfügte, in denen explizite - zum Teil in dramatischen Worten formulierte - Hinweise auf die serbischen Angriffsvorbereitungen standen. Diese wurden jedoch in der zuständigen Analyse-Abteilung des MID in Den Haag um-interpretiert. Es gäbe keine ernsthafte Hinweise darauf, dass die Serben es wagen würden, die Enklave direkt anzugreifen. Als der Angriff voll im Gange war und die serbischen Truppen längst in der Enklave standen, urteilte diese MID-Abteilung, Mladic habe es nur auf den südöstlichen Zipfel der Enlave abgesehen und auf eine Verbindungsstrasse.

Dies geht hervor aus den täglichen Lageberichten, die der MID im Juli 1995 erstellte, sogenannten ‘IntSums’ (Intelligence Summaries), aus denen wir in unserer Sendung am 29. Juni 2001 zitierten. So besagte ‘IntSum 130.95’, vom 10. Juli 1995, also vier Tage nachdem der serbische Angriff begonnen hatte:

"Die bosnisch-serbischen Truppen wollen mit ihrer laufenden Aktion vermutlich eine bessere Kontrolle über die für sie bedeutende Ost-West-Verbindungsstrasse südlich von der Enklave erreichen. Es hat nicht den Anschein, dass die bosnisch-serbischen Truppen eine vollständige Besetzung der Srebrenica-Enklave anstreben."

Einen Tag später, am 11. Juli, fiel Srebrenica und die vollständige Eroberung war eine Tatsache geworden. ‘Intsum 131.95’, erstellt am Morgen dieses Tages, besagt:

"Trotz der letzten Entwicklungen scheint es nicht wahrscheinlich, dass die bosnischen Serben die Srebrenica-Enklave vollständig einnehmen wollen und bei ihrer Forderung einer Räumung bleiben werden. Es scheint nicht im Interesse der bosnischen Serben zu sein, den Muslimen in der Enklave zu erlauben, sich in andere Teile Bosnien-Hergegowina’s zu begeben. (…) Ausserdem verfügen die bosnisch-serbischen Truppen nicht über genügend Infanterie, um die Enklave dauerhaft besetzen zu können. Vorerst scheint die laufende Aktion ein bosnisch-serbischer Versuch zu sein, die Beschlussfähigheit der UNO zu testen."

Dieser dramatischen Fehleinschätzung stellten wir in unserer Sendung die Aussagen von zwei MID-Mitarbeitern in einer MID-internen Untersuchung gegenüber, die behaupteten, sie hätten fortwährend davor gewarnt, die Serben wollten Srebrenica erobern. "Wir waren Rufende in der Wüste", so sagte MID-Major De Ruyter. Er habe sich dabei gestützt auf die Berichte, die er direkt aus der Enklave heraus bekam von einem Kollegen bei Dutchbat, Hauptfeldwebel Rave. Rave war für den Abschirmdienst, eine Unterabteilung des MID, bei Dutchbat tätig und war gleichzeitig eingesetzt als Verbindungsoffizier. Er war bei allen Gesprächen, die Kommandeur Karremans mit den bosnischen Serben und mit den Muslimen führte, dabei, und hatte eine Schlüsselposition bei Duchtbat inne.

Auch zitierten wir aus einem alarmierenden Fax, das der Dutchbat-Kommandeur Oberstleutnant Karremans am 8. Juni 1995, also gut einen Monat vor dem Fall der Enklave, an das Verteidigungsministerium in Den Haag und an die übergeordneten UNO-Stellen in Tuzla und Sarajevo schickte: "Es wird einen grossen Angriff durch die bosnischen Serben geben. (…) Es werden auch Spezialeinheiten eingesetzt werden. (…) General Mladic persönlich befehligt die Truppen. (…) Alle niederländischen Beobachtungsposten werden ausgeschaltet werden. (…) Die Quelle dieser Informationen muss als zuverlässig bewertet werden."

Alle diese Warnungen wurden damals in den Wind geschlagen. Die Frage warum, ist bis heute - trotz aller Srebrenica-Untersuchungen - nicht hinreichend beantwortet.

 

8. Anhang: Autorenangaben und Sendungenübersicht

Argos und Srebrenica

Argos ist eine vierzigminütige Radiosendung, die jeden Freitag auf dem niederländischen Nachrichtensender ‘Radio 1’ ausgestrahlt wird. Seit 1995 machten Gerard Legebeke und Huub Jaspers (gemeinsam) eine Reihe von Argos-Sendungen zum Fall der bosnisch-muslimischen Enklave Srebrenica, von denen einige grosses Aufsehen erregten. Argos wird auch in dem von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebenen Srebrenica-Bericht des NIOD (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation) diverse Male zitiert. In der Quellenangabe des NIOD-Berichts heisst es zum Beispiel: "… special mention must be made of the series of radio documentaries about Srebrenica made by Gerard Legebeke in 1998 for the programme Argos."

 

Argos-Sendungen zum Fall von Srebrenica:

01.09.1995: Erfahrungen von Dutchbat-Soldaten
15.12.1995: Bosnische Flüchtlinge in den Niederlanden
29. 11.1996: Die Frauen von Srebrenica
07.02.1997: Gemeinsam mit Minister Pronk nach Tuzla, zu den Frauen von Srebrenica
10.07.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (I) – Die andere Geschichte
14.08.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (II) – niederländische Beihilfe zu etnischen Säuberungen?
02.10.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (III) – Die Lücke im Bericht der Untersuchungskommission Van Kemenade
11.12.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (IV) – Argos-Rekonstruktion führt zu erkennbaren Bildern
02.07.1999: Srebrenica vier Jahre nach dem Fall – Vermisste dort und Lücken hier
13.10.2000: Was wusste Den Haag von geheimer UNO-Beratschlagung im Mai 1995 zur Lage in Srebrenica?
20.10.2000: Lektionen aus Srebrenica für die UNMEE (UNO-Mission in Äthiopien und Eritrea)
29.06.2001: Was wusste der niederländische militärische Nachrichtendienst (MID) in den Tagen und Wochen vor dem Fall der Enklave von den serbischen Angriffsplänen?
15.03.2002: Was wusste der niederländische militärische Nachrichtendienst (MID) in den Tagen und Wochen vor dem Fall der Enklave von den serbischen Angriffsplänen? (Wiederholung)
05.04.2002: Srebrenica und die Panzer der Dänen (I) - UNO-Spitze wusste von bevorstehendem Angriff
12.04.2002: Srebrenica und die Panzer der Dänen (II) – Warum Dutchbat keine schweren Waffen mitnahm
03.05.2002: Wissenschaftliche Kritik an der von der Regierung beauftragten Srebrenica-Untersuchung des NIOD (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation)
01.11.2002: Wie das NIOD die Vorkenntnisse westlicher Geheimdienste unter den Teppich kehrte
22.11.2002: Hat die niederländische UNO-Truppe getan was sie konnte, um die Bevölkerung von Srebrenica zu schützen?
07.02.2003: Parlamentarischer Untersuchungsausschuss lässt Kernfragen zum Fall von Srebrenica unbeantwortet
08.08.2003: Wie das NIOD die Vorkenntnisse westlicher Geheimdienste unter den Teppich kehrte (Wiederholung)
26.09.2003: Die schleppende Identifikation der tausenden Toten von Srebrenica
13.02.2004: Können die bosnischen Flüchtlinge sicher heimkehren?

 

Live-Gespräche:

Desweiteren führten Argos-Redakteure im Laufe der Jahre eine zahlreiche Live-Interviews auf Radio 1 zum Thema Srebrenica, u.a. mit den (ehemaligen) Ministern Joris Voorhoeve, Pieter Kooijmans, Frank de Grave; mit ehemaligen Dutchbat-Soldaten; mit Wissenschaftlern des NIOD; mit dem Leiter des parlamentarischen Untersuchungsausschusses Bert Bakker; mit Jos van Kemenade dem Leiter der ‘Kommission Van Kemenade’; mit dem IKV-Generalsekretär Mient Jan Faber; mit der Schwester des getöteten Dutchbat-Soldaten Rajiv van Rensen usw. usf.

Gerard Legebeke
Jahrgang 1954, ist Historiker und Chefredakteur der investigativen Radiosendung ‘Argos’, die von der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt VPRO auf dem nationalen Nachrichtensender 'Radio 1' ausgestrahlt wird. Argos wurde verschiedentlich – sowohl national als auch international (unter anderem mit dem ‘Prix Europa’) - ausgezeichnet und bekommt viel Resonanz in anderen niederländischen Medien (Tageszeitungen und Fernsehen).

Huub Jaspers
Jahrgang 1958, ist Redakteur der Sendung ‘Argos’ und arbeitet seit vielen Jahren zu verteidigungspolitischen Themen. Jaspers arbeitet regelmässig mit deutschen bzw. deutschsprachigen Journalisten und Medien zusammen. Das führte zu gemeinsamen Enthüllungen mit bzw. Publikationen in: ZDF Heute Journal, WDR Fernsehen, Streitkräfte & Strategien, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, TAZ, Intr@net Aktuell, Hamburger Abendblatt, Neue Luzerner Zeitung, Medizin & Globales Überleben usw. Jaspers veröffentlichte auch Buchbeiträge.