Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
10. Juli 2004


Nach dem Minimal-Kompromiss von Istanbul
Wohin treibt die NATO?

von Dr. Karl-Heinz Harenberg

Die NATO - das überflüssige Bündnis, überschrieb der Kollege einer linken Zeitung seine Analyse der NATO-Gipfelkonferenz in Istanbul. Aber da war wohl mehr der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn als überholt und kurz vor dem Ende wurde die Allianz selbst zu Zeiten des Kalten Krieges schon bezeichnet und hat doch nicht nur diesen, sondern sogar die anfangs so friedliche Phase nach dem Fall des Eisernen Vorhangs überlebt. Aber daraus zu folgern, das Bündnis sei effektiv und zukunftsfähig, wäre wiederum ein sehr optimistischer Schluss.

Doch eben diesen Optimismus versuchten die Politiker der auf inzwischen 26 Mitglieder angewachsenen Verteidigungsorganisation immer wieder zu verbreiten. So auch in Istanbul. Obwohl man das Zähneknirschen düpierter Gipfelteilnehmer selbst hinter verschlossenen Türen hören konnte. Denn die Tagung in Istanbul war in erster Linie eine Lehrveranstaltung; die Entscheidungen, die die Lebensfähigkeit der Allianz demonstrieren sollten, fielen dagegen eher kärglich aus.

Zu lernen hatten vor allem die USA - nämlich die Tatsache, dass sie das Bündnis nicht so disziplinieren und instrumentalisieren können, wie sie es aus ihrer Sicht für wünschenswert halten. Und für die Europäer bestätigte sich die alte Erfahrung, dass sie - ob alt oder neu - nur dann auch militärisch eine Rolle spielen, wenn sie sich mit der Supermacht arrangieren; nach dem Motto: soviel wie nötig, so wenig wie möglich.

Vor diesem Hintergrund werden die Entscheidungen, die in Istanbul nach zum Teil langwierigen Auseinandersetzungen in vorbereitenden Expertensitzungen getroffen wurden, überhaupt erst verständlich.

Die halbherzigen Versprechen zum Beispiel, Afghanistan beim Aufbau eines demokratischen Staates - das heißt ganz aktuell bei der Vorbereitung der im Herbst geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen - die nötige Hilfestellung zu geben. So soll die Zahl der ISAF-Soldaten, die Wahlen und Wähler schützen müssten, von 6.500 um dürftige 3.500 auf 10. 000 aufgestockt werden, aber auch die werden nicht etwa an den Brennpunkten des Widerstandes im Lande stationiert, sondern teilweise sogar außerhalb Afghanistans, als schnelle Eingreifreserve, wie es heißt. Und selbst welche NATO-Länder wie viele zusätzliche Truppen stellen werden, und ob die Verstärkung bis zu den Wahlen überhaupt einsatzbereit ist, steht noch immer in den Sternen.

Der allzeit dankbare afghanische Übergangspräsident Hamid Karzai kommentierte selbst dieses völlig unzulängliche Hilfsangebot mit den überschwänglichen Worten: "We are happy with that" (Wir sind glücklich darüber). Wie die Regierung in Kabul aber tatsächlich denkt, hat General Zahir Azimy, der Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums, wohl deutlicher zum Ausdruck gebracht: "Diese Hilfe ist unzulänglich", wird er zitiert, "wir erwarten mehr."

Die Drückebergerei der NATO im Falle Afghanistans ist gerade darum so unverständlich, weil sich - anders als im Irak - die gesamte Allianz die Demokratisierung dieses Landes zur Aufgabe gemacht hat. Scheitert sie mit dieser Aufgabe, stellt sie sich als Allianz des 21. Jahrhunderts, als die sie sich gern bezeichnet, und damit ihre Existenzberechtigung überhaupt infrage.

Andererseits ist aber auch Afghanistan Beispiel für die widerstreitenden Interessen im Bündnis. Denn neben den NATO-geführten Sicherheitsstreitkräften ISAF agieren im Lande ja noch die Kampftruppen des US-geführten Feldzuges "Enduring Freedom" (dauerhafte Freiheit) auf der Jagd nach Taliban-Milizen, Osama bin Laden und Al Qaida-Terroristen. Also Krieg und Frieden zeitgleich in einem Land - eine fatale Konstellation. Die Bitte von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer an die US-Regierung, ihr Afghanistan-Konzept zu ändern, fand in Washington jedoch kein Gehör. Und so ist die Bemerkung de Hoop Scheffers, das Afghanistan-Modell sei nicht das Modell, das er bevorzuge, ein Zeichen für Resignation pur.

Das Dauerthema der NATO - mehr Geld für mehr Rüstung, um das Kräfteungleichgewicht zu den USA nicht weiter wachsen zu lassen - ist in Istanbul so wie immer schon behandelt worden: Große Versprechungen als Muster ohne Wert. Auch dafür steht eine Bemerkung des NATO-Generalsekretärs: "Manchmal habe ich mich wie ein Bettler gefühlt", hat er seine Bemühungen in den Mitgliedsländern um mehr Verteidigungsanstrengungen beschrieben und festgestellt: "Wenn sich der Generalsekretär der NATO wie ein Bettler fühlt, ist an dem System etwas falsch." An dem System oder am Bündnis überhaupt, ist die Frage. Denn in einem Militärbündnis von 26 Staaten, in dem 25 Mitglieder insgesamt finanziell weniger als die Hälfte dessen aufbringen, was die Supermacht allein ausgibt, sind die Proportionen aus den Fugen geraten.

Ein Beispiel für die Misere ist die NATO Response Force, obwohl sie in Istanbul wieder als eine Erfolgsgeschichte herhalten musste. Dieser Verband, der vor zwei Jahren beim NATO-Gipfel in Prag auf amerikanischen Wunsch hin gegründet wurde, soll aus gut 20. 000 Soldaten von Heer, Luftwaffe und Marine bestehen und im Notfall innerhalb weniger Tage weltweit einsatzbereit sein. Das Besondere dabei: Die Soldaten stellen die Europäer, den Einsatzbefehl gibt SACEUR, der NATO-Oberbefehlshaber Europa, den immer die USA stellen.

Was in diesem Zusammenhang ebenfalls heruntergespielt wird, ist die Tatsache, dass die meisten europäischen Mitgliedsländer - und dazu gehört auch die Bundesrepublik Deutschland - sich schon die gegenwärtigen Auslandseinsätze personell und finanziell kaum noch leisten können. Und dass außerdem - unabhängig vom Aufbau der NATO Response Force - auch die Europäische Union schnell verlegbare Kampfverbände mit insgesamt zehn bis fünfzehntausend Soldaten aufstellen will. Wie diese kostspieligen Pläne jedoch bezahlt und verwirklicht werden sollen, bleibt das Geheimnis der europäischen Regierungen. Was können sie auch sagen vor dem Hintergrund eines drastischen Abbaus sozialer Errungenschaften, der zur Zeit in allen Ländern betrieben wird?

Geht es bei vielen Problemen im Bündnis um die Widersprüche zwischen guten Absichten und realen Möglichkeiten, so gibt es daneben auch sehr massive politische Differenzen, die die Existenzberechtigung dieser Militärorganisation untergraben. Das derzeit zentrale Beispiel dafür ist der Fall Irak. Bezeichnend für die anhaltenden tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten ist allein die Tatsache, dass die Behandlung dieses wichtigen Themas auf der offiziellen Tagesordnung des NATO-Gipfels in Istanbul gar nicht vorgesehen war. Ein Trick, um einen neuerlichen Krach zwischen den USA und den neuen Europäern einerseits sowie den Kritikern des Krieges andererseits zu vermeiden. Zwar haben die amerikanischen Politiker auf allen Ebenen in langen Diskussionen versucht, die NATO als Bündnis zur Bewältigung der Nachkriegsschwierigkeiten einzuspannen, aber die Chancen dafür waren erwartungsgemäß gering. Dennoch kam aus dem Pentagon sogar der Vorschlag, die NATO solle die Verantwortung für die von polnischen Offizieren geführte, multinationale Division im Irak übernehmen. Dass dieser provokative Vorschlag nicht hinter verschlossenen Türen erledigt, sondern öffentlich bekannt wurde, zeigt das desolate Krisenmanagement der Allianz. Um einen neuen großen Krach dennoch zu vermeiden, wurde schließlich der Beschluss gefasst, bei der Ausbildung irakischer Soldaten und Sicherheitskräfte zu helfen - einer dieser unverbindlichen Formelkompromisse zwischen JA und NEIN, mit denen die Allianz langjährige Erfahrung hat. Für dieses J-EIN steht auch die Tatsache, dass die NATO als Bündnis den Einsatz der polnisch geführten Division im Irak von Anfang an logistisch und mit nachrichtendienstlichen Informationen unterstützt hat, ohne dass dieser an Schizophrenie grenzende Widerspruch öffentlich ernsthaft zur Diskussion gestellt worden wäre. Daraus ergibt sich die Frage, wie lange ein Bündnis, das doch nur im Konsens wirksam und glaubwürdig sein kann, solche Widersprüche aushält.


 

Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die Hörfunk-Sendung “Streitkräfte und Strategien” beim NDR zuständig, das einzige sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.