Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
28. Juni 2014


Ordnungsmacht wider Willen – Obamas Dilemma im Nahen Osten

Andreas Flocken

US-Präsident Obama war eigentlich angetreten, um Kriege zu beenden und keine neuen zu führen. Der Irak-Krieg 2003 war für den Friedensnobelpreisträger ein unnötiger, ein „dummer“ Krieg. Der Abzug der US-Truppen vor rund drei Jahren war für den US-Präsidenten daher ein überfälliger Schritt. 

Doch inzwischen kontrolliert die Terrorgruppe ISIS weite Teile des Irak. Die Abkürzung ISIS steht für „Islamischer Staat im Irak und in Groß-Syrien“.
 
Die USA sind jetzt in einem Dilemma. Denn die Supermacht will einen Zusammenbruch des Irak verhindern und einem möglichen Flächenbrand in der Region nicht tatenlos zuschauen. Ein erneutes Militärengagement kommt aber auch nicht in Frage. Zwar hat Obama seinen Außenminister in die Region entsandt, um den Konflikt politisch zu lösen. Doch die Erfolgsaussichten der Mission sind gering. Obama hatte in der vergangenen Woche zugleich angekündigt, bei einem weiteren Vormarsch der ISIS-Dschihadisten ggf. auch militärische Instrumente einzusetzen:

O-Ton Obama
„We will be prepared to take targeted and precise military action, if and when we determine that the situation on the ground requires it.”

Die Rede ist von Luftangriffen. Der US-Präsident versucht, sich so auch zu Hause etwas mehr Luft zu verschaffen. Denn nicht nur der republikanische Senator John McCain kritisiert Obamas Irak-Politik und wirft ihm Tatenlosigkeit vor:

O-Ton McCain (overvoice)
„Der Präsident treibt lieber Wahlkampfspenden ein und spielt Golf. Und jetzt zaudert er, während der Irak brennt."

Der Druck auf Obama ist also groß. Der US-Präsident hat die Entsendung von Bodentruppen ausgeschlossen. Allerdings sollen rund 200 Soldaten US-Einrichtungen im Irak schützen. Außerdem hat   der Präsident angekündigt, bis zu 300 Militärberater in das Land zu  schicken.

Unter ihnen sind auch viele Spezialkräfte, die offenbar US-Luftschläge vorbereiten sollen. Diese Soldaten können Ziele erkunden und diese für Luftangriffe markieren.
Obamas Parteikollegin, die Minderheitsführerin im Repräsentantenhaus Nancy Pelosi, warnt daher, vor einer schleichendenden Eskalation:

O-Ton Pelosi
„You have to be careful sending special forces. Because it's a number that has a tendency to grow up.”

Mit der Entsendung von Militärberatern hatte bereits Anfang der 1960er Jahre  schleichend der Vietnam-Krieg begonnen. Es wurden immer mehr Soldaten geschickt. Der Krieg endete schließlich für die USA in einem Debakel.

Obama möchte eigentlich verhindern, dass die USA im Nahen Osten in einen Krieg hineingezogen werden. Der US-Präsident will eine politische Lösung, setzt auf eine neue Regierung im Irak. Denn die von  Schiiten dominierte Regierung unter Ministerpräsident Nuri al-Maliki benachteiligt die Sunniten im Land. Für das Weiße Haus einer der Hauptgründe für den sich abzeichnenden Zerfall des Irak. Maliki lehnt einen Rücktritt allerdings weiterhin ab, ist auch gegen die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit.



Interview Flocken / Dr. Jochen Hippler

Flocken: Über die festgefahrene Situation im Irak habe ich mit dem Konfliktforscher Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen gesprochen. Ich habe Jochen Hippler zunächst gefragt, ob Maliki wirklich der Alleinschuldige für die gegenwärtige Lage ist:

Hippler: Alleinschuldig wäre vielleicht ein bisschen überzogen, weil man auch daran denken muss, dass er nicht aus dem Nichts gekommen ist. Ich glaube, dass die US-Besetzung des Irak 2003  und die Jahre danach eine wichtige Voraussetzung der Katastrophe waren. Aber Maliki hat als Ministerpräsident eine große Mitverantwortung, weil er versucht hat, alle anderen politischen Akteure an den Rand zu drängen und seine persönliche Macht im schiitischen Lager, aber erst  recht gegenüber Sunniten und Kurden zu stärken. Und das hat halt viele Gegenreaktionen auf den Plan gerufen.


Flocken: Für viele ist rätselhaft, dass die Terrorgruppe ISIS so schnell weite Teile des Irak kontrollieren konnte. Die Rede ist ja von rund 10.000 Kämpfern, möglicherweise sogar weniger. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass man mit einigen Tausend Kämpfern große Teile Syriens und des Irak kontrollieren kann?

Hippler: Ich glaube, das ist nicht so schwer zu erklären, weil es eben tatsächlich nur bestimmte Teile des Landes sind. Landesteile, die entweder praktisch Wüste mit einer sehr geringen Bevölkerungsdichte sind, oder es sind Gebiete, die im Westen des Landes liegen und von sunnitischen Bevölkerungsteilen bzw. sunnitischen Stämmen bewohnt werden. Und die haben in den letzten Jahren unter Maliki, vor allem seit 2011, das Gefühl gehabt, dass sie  an den Rand gedrückt werden, dass sie nicht ernst genommen und stattdessen misshandelt, unterdrückt und auch ziemlich brutal unterdrückt werden. Und sie sehen inzwischen in den Aufständischen das kleinere Übel verglichen mit dem irakischen Staat. Das heißt, wenn die Bevölkerung die ISIS-Verbände nicht tolerieren würde, teilweise nicht unterstützen würde, dann wäre dieses schnelle Vordringen völlig undenkbar gewesen. So einen Vormarsch kann man sich in anderen Landesteilen daher nicht vorstellen. Im kurdischen Norden beispielsweise kann man das ausschließen. Und in den schiitischen Teilen des Irak, also vor allem im Süden und im Südosten und in großen Teilen von Bagdad, wo die Schiiten dominieren, ist so ein Vorstoß ebenfalls auszuschließen. Das heißt, dieses blitzartige Vordringen legt eben tatsächlich nahe, dass es nur möglich wurde aufgrund des Stillschweigens oder der aktiven Hilfe großer Teile der sunnitischen Bevölkerung, weil sie im Moment Maliki schlimmer findet als ISIS.


Flocken: In Syrien tobt ja schon seit mehr als drei Jahren ein Bürgerkrieg. Und auch hier ist die Terrorgruppe ISIS ein wichtiger Akteur. Jetzt erleben wir auch im Irak einen offenen Bürgerkrieg. Sind diese Konflikte nicht schon längst verschmolzen zu einem Konflikt?

Hippler: Ja, wir haben insgesamt einen regionalen Konflikt. Denken Sie an die Situation in Libyen nach dem Sturz von Gaddafi, da gibt es Verknüpfungen mit Mali, mit Boko Haram in Nigeria, aber auch Waffenlieferungen nach Ägypten, nach Syrien, und in den Irak. Und dann haben wir jetzt tatsächlich diesen Doppelkrieg in Syrien und im Irak. Es besteht die Gefahr, dass jetzt Jordanien, vielleicht die Türkei, aber vor allem der Libanon mit reingezogen werden. Das heißt, diese Aufbruchsstimmung von 2011 / 2012 mit dem Arabischen Frühling ist inzwischen ersetzt worden durch eine regionale Bürgerkriegssituation.


Flocken: Kritiker bezweifeln, dass der Irak als Staatsgebilde überhaupt noch zu halten ist. Der Norden wird ja de facto schon jetzt von den Kurden kontrolliert. Steht der Irak als Staat vor dem Zerfall?

Hippler: Also das wäre noch ein bisschen zu früh, es so zu sagen. Es gab in den 90er Jahren solche Spekulationen, die sich aber nicht bewahrheitet haben. Wir hatten sie 2003 / 2005. Das hat sich ebenfalls nicht bewahrheitet. Allerdings muss man schon sagen, dass aus zwei Gründen die Gefahr des Zerfalls des Irak jetzt etwas stärker geworden ist. Erstens, weil jetzt ein großer Teil der sunnitischen Bevölkerungsgegenden dieses blitzartige Vordringen von ISIS unterstützt. Das zeigt, wie sehr sich diese arabischen Sunniten inzwischen entfremdet haben. Und zweitens haben die Kurden relativ klug diese Situation des Vordringens ausgenutzt, um etwa Kirkuk, also die Ölstadt im Norden, und andere Gegenden unter Kontrolle zu bringen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kurden diese Kontrolle wieder abgeben werden, wenn die Krise vorbei ist.


Flocken: Weite Teile des Irak werden von der Terrororganisation ISIS kontrolliert. Kritiker sagen, die Ursachen für die jetzigen Probleme des Landes sind in erster Linie auf den US-Angriff 2003 zurückzuführen. Und auf den Sturz von Saddam Hussein. Denn damals gab es praktisch keine Al Qaida im Irak, auch keine Terrorgruppe ISIS. Inwiefern sind die USA mitverantwortlich für die jetzige Entwicklung?

Hippler: Ich glaube, dass es eine große Mitverantwortung der USA gibt. Es hat aber auch Faktoren vorher und nachher gegeben. Bereits in den 20er und 30er Jahren hat der damalige irakische König sich darüber beschwert, dass der Irak eigentlich gar nicht regierbar ist. Aber ich glaube, dass die USA eine Schlüsselrolle haben. Zum Teil war es so, dass die Erwartungen Washingtons bei der Intervention und bei der Besetzung ausgesprochen naiv gewesen sind. Man dachte, in 90 Tagen das Land an eine neue irakische Regierung weitergeben zu können. Dann stellte man fest, dass es keine funktionierenden Parteien, keine Gewerkschaften, keine Zivilgesellschaft gab und dass man zuerst nicht wusste, an wen man die Macht übergeben sollte. Außer evtl. an zwei islamistische schiitische Parteien. Das wollte man damals aber nicht. Und dann hat man eben händeringend repräsentative irakische Politiker gesucht, und das waren dann halt Schiiten, Sunniten, Kurden und andere. Und dann hat man sozusagen eine Prämie darauf ausgesetzt, wer ist „schiitischer“ und wer ist „sunnitischer“ als der Gegner. Und das hat die Spaltung in der irakischen Gesellschaft, die es da sicher gab, wesentlich verschärft. Insofern glaube ich tatsächlich, dass die US-Besatzung  eine große Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation hat.


Flocken: Die USA sind ja dann Ende 2011 aus dem Irak abgezogen. Erfolgte der Abzug zu früh?

Hippler: Zu früh, das kann man nicht sagen. Wenn damals Herr Maliki, der auch einen großen Teil der Schuld hat, eine versöhnende, eine integrierende Politik betrieben hätte, und nicht eine Politik, persönlich alle Macht auf sich selbst zu konzentrieren, und alle seine Gegner an die Wand zu drängen, dann hätte es eine Chance für den Irak gegeben. Es hat aber keinen Mechanismus, keine Automatik gegeben, dass nach dem US-Abzug das rauskommen musste, was jetzt im Irak passiert. Maliki hatte eine Chance, die er aber vollkommen missachtet und nicht genutzt hat.


Flocken: Die USA haben ja vor ihrem Abzug aus dem Irak Ende 2011 Milliarden von Dollar in Ausbildung und Ausrüstung der irakischen Sicherheitskräfte gesteckt. Gegen die zahlenmäßig kleine Terrorgruppe ISIS haben die irakischen Sicherheitskräfte aber de facto keinen Widerstand geleistet. Zeigt das nicht, wie fragwürdig das Konzept ist, Sicherheitskräfte auszubilden und auszurüsten, ohne dass man eine politische Lösung hat? Ich frage das auch mit Blick auf Afghanistan, wo ja ein ähnliches Konzept seit Jahren praktiziert wird.

Hippler: Natürlich. Sie haben völlig Recht. Wenn man eine Situation hat, in der der Staatsapparat als Fremdkörper oder sogar als Feind betrachtet wird, und dazu haben sowohl Herr Karsai in Afghanistan als auch Herr Maliki im Irak, sehr viel dazu beigetragen; also wenn der Staatsapparat selber nicht die Gesellschaft repräsentiert, sondern wahrgenommen wird als ein Machtinstrument einer kleinen Clique oder einer Person oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, wenn Sie in so einem politischen Rahmen Militär ausbilden, dann heißt es nicht, dass dieser Apparat unter [gesellschaftlichen] Belastungen tatsächlich auch funktionieren wird. Eine Militärausbildung ist nicht nur etwas Technisches, so als ob man Gewehre reinigen oder Fahrzeuge benutzen kann. Es geht ja eben tatsächlich darum, einen Sicherheitsapparat zu haben, der dann in Kriegen, auch unter Lebensgefahr für die eigene Regierung eintritt, für den eigenen Staat. Und wenn die Leute das Gefühl haben, warum sollte ich für Karsai oder für Maliki sterben, dann nützt Ihnen die beste Ausbildung nichts. Das Primäre muss tatsächlich in solchen Situationen sein, die Gesellschaft zusammenzuführen, zu integrieren, einen funktionierenden legitimen Staatsapparat zu haben. Dann ist die Stärkung von Sicherheitsapparaten sicher eine sehr nützliche und notwendige Geschichte. Aber ohne diese Grundsätze, ohne diese Grundlage hängt die Ausbildung der Sicherheitskräfte völlig in der Luft. Und wie wir jetzt im Irak sehen, schmilzt der Sicherheitsapparat dann wie Schnee in der Sonne, wenn die Voraussetzungen nicht vorhanden sind.


Flocken: Der Vormarsch der Terrorgruppe ISIS wird von den USA und den westlichen Staaten als große Bedrohung wahrgenommen. Der syrische Machthaber Assad versucht ebenfalls, die Terrormiliz ISIS zu zerschlagen, genauso wie die USA. Geht Assad aus der momentanen Situation nicht sogar sehr gestärkt hervor? Ist er möglicherweise nicht wieder für den Westen akzeptabel, als Bollwerk gegen den Terrorismus? Assad quasi als das kleinere Übel?

Hippler: In gewisser Hinsicht ist diese Tendenz, Assad als das kleinere Übel zu nehmen schon so seit einem bis eineinhalb Jahren in Gange, auch wenn man das öffentlich nicht ausspricht. Aber im Schatten dieser sich veränderten Wahrnehmung, spielt jetzt natürlich auch ISIS eine gewisse Rolle. Und da kann man schon sagen, dass Assad inzwischen von vielen Leuten, auch im Ausland, jetzt nicht mehr als so schlimm gesehen wird wie früher. Allerdings ist dieser „Rückweg“ schwierig: weg von dieser aktivistischen Umsturzpolitik gegen die syrische Diktatur, die ja von den meisten westlichen Ländern betrieben worden ist, hin zu einer Politik, mit dem Diktator wieder ins Geschäft zu kommen. Eine solche Politik ist natürlich auch nicht sehr beliebt in der Öffentlichkeit. Man wird da noch ein bisschen vorsichtig sein, bis man den Schritt gehen wird. 


Flocken: Welche Möglichkeiten hat denn der Westen, jetzt von außen einzugreifen oder eine Lösung des Konfliktes zu unterstützen?

Hippler: Ich glaube, dass es praktisch keine gibt, wenn die Voraussetzungen im Irak und in Syrien von innen heraus nicht gegeben sind. Wir haben jetzt gelernt, in Somalia, in Afghanistan, im Irak und sonst wo, auch in Syrien, dass die Möglichkeit westlicher Politik durch militärische Stärke, Regime zu zerstören und zu stürzen, fast unbegrenzt ist. Beispiele sind Saddam Hussein, die Taliban und Muammar al-Gaddafi. Aber es mangelt an der Fähigkeit nach dem Sturz solcher Regime, neue Gesellschaften konstruktiv aufzubauen. An dieser Aufgabe ist sind wir fast immer gescheitert, weil die notwendigen Voraussetzungen in den Ländern nicht vorgelegen haben. Das sollte auch dazu führen, vielleicht in Zukunft die Kriterien für solche Interventionen nochmal etwas kritischer und selbstkritischer zu überdenken.


 

Andreas Flocken ist Redakteur für die Hörfunk-Sendung "Streitkräfte und Strategien" bei NDRinfo.