Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
26. Juli 2008


Aufstandsbekämpfung in Afghanistan und Pakistan
Der längste Krieg der USA?

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Wanat im Nordosten Afghanistans, unmittelbar an der pakistanischen Grenze, 13. Juli 2008, 4.30 Uhr: In einem Vorposten der ISAF-Truppe bereiten sich die ersten Männer darauf vor, den gerade erst eingerichteten Stützpunkt weiter auszubauen. 45 US-Soldaten und 25 afghanische Soldaten sind hier eingesetzt. Plötzlich wird das Feuer auf das Camp eröffnet. Maschinengewehre rattern, aus Panzerfäusten abgefeuerte Granaten schlagen ein, der Stützpunkt wird mit Mörsern beschossen. Rund 200 Aufständische haben den so genannten Combat Outpost umzingelt, greifen an. Die zunächst überraschten ISAF-Soldaten erwidern das Feuer, fordern Luftunterstützung an. Den Aufständischen gelingt es, in den Stützpunkt einzudringen. Die heftigen Kämpfe dauern mehrere Stunden. B1-Bomber, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber greifen ein. Die blutige Bilanz: Neun Amerikaner werden getötet, 15 US-Soldaten und vier afghanische Soldaten werden verletzt. Über die Zahl der getöteten Aufständischen gibt es keine offiziellen Angaben. Die Rede ist von bis zu 100 toten Angreifern. Bei den Luftangriffen werden auch Unbeteiligte getötet, teilen die afghanischen Behörden mit. Die Aufständischen würden nun von wütenden Dorfbewohnern unterstützt.

Nach dem Feuerüberfall gibt die ISAF den attackierten Stützpunkt auf. Die Taliban kontrollieren einige Tage die Ortschaft Wanat, ziehen sich wenig später aber wieder zurück, vermutlich hinter die pakistanische Grenze.

Der Angriff auf die normalerweise in Italien stationierten US-Soldaten der 173. Luftlandebrigade ist möglicherweise ein weiterer Anlass, das US-Engagement in der Region erheblich zu verstärken. Zurzeit sind knapp 70.000 ausländische Soldaten in Afghanistan stationiert, rund die Hälfte kommt aus den USA. Und jetzt gibt es Überlegungen, die US-Truppen um bis zu 10.000 Soldaten zu verstärken. Denn die Verluste der USA am Hindukusch nehmen zu. In den vergangenen Monaten starben mehr US-Soldaten in Afghanistan als im Irak. Und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.

Der ehemalige US-Staatssekretär und Botschafter Richard Holbrooke ist sicher, dass der Krieg am Hindukusch noch sehr, sehr lange dauern wird. Der frühere Diplomat auf einer Veranstaltung des CENTER FOR STRATEGIC AND INTERNATIONAL STUDIES in Washington:

O-Ton Holbrooke (overvoice)
"Der Krieg in Afghanistan dauert nun schon sieben Jahre. Und es ist absehbar: Das wird der längste Krieg in der Geschichte Amerikas. Der längste Krieg ist bisher der Vietnamkrieg. Er dauerte 14 Jahre, von 1961 bis 1975. Ich sehe nicht, dass wir unsere Ziele in Afghanistan schneller erreichen könnten. Das ist natürlich eine ernüchternde Aussage mit massiven politischen Konsequenzen."

Schon seit langem fordern die US-Militärs Verstärkungen für den Hindukusch. Enttäuscht ist man insbesondere über das Verhalten der NATO-Verbündeten – weil sie ihren eingegangenen Verpflichtungen in Afghanistan nicht nachkommen würden. So mancher Amerikaner hat das eine oder andere Allianzmitglied schon längst als unsicheren Kantonisten abgeschrieben. Aber man will nicht mehr länger warten. Deswegen setzen die USA jetzt auf eine "Amerikanisierung" der Afghanistan-Mission.

Anfang des Monats wurde der Flugzeugträger ABRAHAM LINCOLN vom Persischen Golf in den Golf von Oman beordert. Seine Kampfflugzeuge sollen die ISAF-Mission und die Operation Enduring Freedom unterstützen – zusätzlich zu den zahlreichen bereits am Hindukusch stationierten Maschinen.

Immer mehr ins Blickfeld gerät Pakistan. Das Grenzgebiet ist für die Aufständischen Rückzugsraum und Ruhezone. Dort können sie sich ungestört sammeln und weitere Angriffe auf das Nachbarland vorbereiten - auf ISAF- und US-Truppen sowie afghanische Einrichtungen.

Für den ehemaligen Top-Diplomaten Holbrooke sind Pakistan und Afghanistan schon längst ein zusammenhängendes einheitliches Konflikt- und Operationsgebiet. Er nennt es AF-PAK. Es gibt allerdings ein großes Problem:

O-Ton Holbrooke (overvoice)
"Im westlichen Teil von AF-PAK operieren die NATO-Kräfte. Doch im östlichen Teil, also auf der anderen Seite der Grenze, in den Stammesgebieten, spielt die NATO überhaupt keine Rolle – wenn man mal von dem gelegentlichen Einsatz von Predator-Drohnen absieht. Diese ganze Operation ist ungewöhnlich - weil die NATO-Kräfte nur auf einer Seite des Operationsgebietes kämpfen. Dabei kann man nur erfolgreich sein, wenn man auf beiden Seiten des Gefechtsfeldes operiert."

Die US-Regierung fordert schon seit langem die pakistanische Führung auf, im Grenzgebiet gegen die Aufständischen vorzugehen. Nicht nur für Pentagonchef Gates ist die Regierung in Islamabad aber bis heute weitgehend untätig geblieben:

O-Ton Gates (overvoice)
"Für mich ist ganz klar, dass etwas auf pakistanischer Seite gemacht werden muss, um Druck auf die Taliban und andere gewaltbereite Gruppen auszuüben."

Ungeduldig ist auch Hamid Karsai. Der afghanische Präsident macht vor allem Pakistan für den Anstieg der Anschläge und die Zunahme der Gewalt in seinem Land verantwortlich.

Denn die Taliban gelten als Ziehkind des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Karsai will Beweise dafür haben, dass der ISI Drahtzieher des verheerenden Bombenanschlages Anfang des Monats auf die indische Botschaft in Kabul ist. Bei dem Attentat sind mehr als 40 Menschen getötet worden. Bereits nach der spektakulären Befreiungsaktion von rund 800 Häftlingen aus dem Gefängnis von Kandahar vor sechs Wochen drohte der afghanische Präsident dem Nachbarland mit Militäraktionen im pakistanischen Grenzgebiet. Karsai beruft sich dabei auf das Recht der Selbstverteidigung:

O-Ton Karsai
"Afghanistan has the right of self defence when they cross the territory from Pakistan to come and kill Afghans and coalition troops. It exactly gives us the right to go back and do the same."

Dieses Säbelrasseln - für den neuen ISAF-Befehlshaber McKiernan ist es ein Zeichen dafür, wie frustriert die afghanische Regierung über die jüngste Entwicklung ist. Eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kabul und Islamabad käme aber denkbar ungelegen. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern macht die schon jetzt angespannte Lage für den Vier-Sterne-General noch komplizierter:

O-Ton McKiernan (overvoice)
"Mit Sicherheit macht mich das besorgt. Denn es handelt sich um zwei souveräne Staaten. Und das Letzte was wir jetzt gebrauchen können, ist eine Militärintervention auf der einen oder anderen Seite. Das ist wirklich meine Sorge."

Seit einiger Zeit bemühen sich afghanische und pakistanische Militärs sowie die NATO, ihr Vorgehen zu koordinieren. Mehrere Gremien sind eingerichtet worden, um sich gegenseitig zu informieren und Erkenntnisse über Aufständische auszutauschen. General McKiernan:

O-Ton McKiernan (overvoice)
"Es gibt einen Prozess, an dem drei Seiten beteiligt sind. Das pakistanische und afghanische Militär sowie die ISAF versuchen, gemeinsam die Sicherheits-Maßnahmen an der afghanisch-pakistanischen Grenze zu koordinieren. Wir sind aber noch nicht da, wo wir eigentlich sein wollten. Da müssen wir noch viel mehr Anstrengungen unternehmen, wie z.B. einen Austausch von Informationen, damit es zu mehr Sicherheit an der Grenze kommt."

Doch auf höchster Ebene haben diese gemeinsamen Gespräche schon seit Monaten nicht mehr stattgefunden. Der Grund: Seit den Wahlen hält sich der Musharraf-Nachfolger als Armeechef, General Ashfaq Parvez Kayani, zurück - sehr zum Unwillen von Washington. Einer der Gründe ist, dass die neue pakistanische Regierung auf Friedensgespräche und Vereinbarungen mit den örtlichen Stammesführern in den Grenzregionen setzt. Man hofft, auf diese Weise die Probleme lösen zu können.

Für die USA sind solche Abkommen bisher allerdings wirkungslos geblieben. US-General McNeill, bis Anfang des Jahres Befehlshaber der ISAF-Truppe:

O-Ton McNeill (overvoice)
"Mit den Aufständischen gibt es einen Dialog, gibt es Gespräche. Und es wird ‚Friedensvereinbarungen’ geben – obwohl die Vergangenheit gezeigt hat, dass solche ‚Friedensabkommen’ nicht funktionieren. Was ich aber vermisse, sind Maßnahmen, um weiter Druck auf die Aufständischen auszuüben. Denn bisher hat es nur bei Militäroperationen einen Rückgang der Aktivitäten der Aufständischen gegeben. Wenn es aber Gespräche oder Friedensvereinbarungen gegeben hat - dafür gibt es Belege - dann sind die Aktivitäten auf der afghanischen Seite der Grenze angestiegen."

Der frühere ISAF-Befehlshaber General McNeill fordert koordinierte Militäroperationen gegen die Aufständischen - und zwar auf beiden Seiten der Grenze. Auf pakistanischer Seite sind zwar über 90.000 Soldaten an der knapp 2.500 Kilometer langen Grenze zu Afghanistan stationiert. Sie gehören dem so genannten Frontier Corps an, also den Grenztruppen. Diese paramilitärische Truppe gilt allerdings als unzuverlässig. Außerdem ist sie schlecht ausgebildet. Ihre Mitglieder rekrutieren sich überwiegend aus den Stammesgebieten. Die Loyalität dieser Soldaten gilt vor allem den örtlichen Stammesführern und weniger den militärischen Vorgesetzten.

General McNeill hat mit dem Frontier Corps eher schlechte Erfahrungen gemacht. Im Frühjahr hatte die ISAF versucht, einen Streit zwischen Afghanen und Pakistanern in der Grenzregion auf pakistanischem Boden zu schlichten. Diese Mission endete für einen US-Offizier tödlich:

O-Ton McNeill (overvoice)
"Als man am Ende des Treffens dann auseinandergehen wollte, wurde Major Bogguss von einem Mitglied des Frontier Corps niedergeschossen. Dieser Mann wurde dann seinerseits von einem amerikanischen Soldaten getötet. – Daraus darf man zwar nicht auf das ganze Frontier Corps schließen – aber dieser Vorfall beschäftigt mich bis heute."

Etwas länger zurück liegt ein ähnlicher Vorfall. Ebenfalls bei einem Treffen im Grenzgebiet hatte damals ein anderes Mitglied des Frontier Corps einen anwesenden US-Feldwebel durch einen Schuss ins Genick getötet.

Trotz dieser negativen Erfahrungen planen die USA, die pakistanischen Grenztruppen mit Ausbildern und militärischem Gerät zu unterstützen. Dafür sollen rund 400 Millionen Dollar bereitgestellt werden. Und sollte Barack Obama im November zum US-Präsidenten gewählt werden, dann könnten auch noch mehr Mittel für Pakistan bereitgestellt werden. Denn der US-Senator hat klare Prioritäten gesetzt. Für ihn ist der Konflikt am Hindukusch wichtiger als der Irak:

O-Ton Obama (overvoice)
"Die größte Bedrohung für die Sicherheit geht von den Stammesgebieten in Pakistan aus. Dort werden Terroristen ausgebildet, von dort schlagen Aufständische in Afghanistan zu. Wir können einen Rückzugsraum für Terroristen nicht hinnehmen. Als Präsident werde ich das nicht tun. Wir brauchen eine starke Partnerschaft zwischen Afghanistan, Pakistan und der NATO um die Grenze zu sichern und gegen Terroristencamps und Aufständische vorzugehen. Wir brauchen mehr Truppen, Hubschrauber, Satelliten und Drohnen im Grenzgebiet. Und wir müssen Pakistan klarmachen, wenn es nichts unternimmt, dann werden wir uns der Terroristen annehmen. Täuscht euch nicht: Wir werden in Afghanistan nicht erfolgreich sein oder unser Land schützen, wenn wir nicht unsere Pakistan-Politik ändern."

Mehr als bisher sind für Obama auch die NATO-Partner in der Region gefordert. Denn im pakistanschen Grenzgebiet wird letztlich darüber entschieden, ob die Afghanistan-Mission des Bündnisses erfolgreich sein wird oder aber scheitert. Hier gibt es Handlungsbedarf. So sieht es auch Verteidigungsminister Jung:

O-Ton Jung
"Also wir haben ja jetzt schon im Rahmen der Operationen, die derzeit auch in Afghanistan laufen,... wobei ich um Verständnis bitte, dass wir natürlich nicht alle Operationen hier in der Öffentlichkeit darstellen... diese Grenze im Blick. Ich halte es nur für wichtig, dass die afghanisch-pakistanische Grenzkommission jetzt zu Ergebnissen kommt, damit wir hier im Hinblick auf die Grenzsicherungen einen zusätzlichen Beitrag leisten können...Ich finde wir müssen jetzt hier weiterkommen, um letztlich in diesem Bereich effektiver Handeln zu können. Der Generalinspekteur war vor Ort, da hat er es unmittelbar gesehen, wo 60.000 Leute über die Grenze gehen, jeden Tag völlig unkontrolliert, und wo natürlich diese Fragen, Rückzugsmöglichkeiten und auch Nachschubmöglichkeiten für terroristische Aktivitäten, sich unmittelbar stellen. Und deshalb halte ich es für richtig und notwendig, dass wir in diesem Bereich einen Schritt weiter kommen."

Weiter kommt man aus Sicht der USA aber nicht mehr allein mit Tornado-Aufklärungsflügen an der pakistanisch-afghanischen Grenze. Schon jetzt ist zu hören, die Amerikaner wünschten u.a. den Einsatz der Quick Reaction Force der Bundeswehr im Osten Afghanistans. Stationiert ist dieser Eingreifverband zurzeit in Masar-i-Scharif im Norden des Landes. Unter einem Präsidenten Obama wird der Druck auf Deutschland erheblich wachsen, Truppen in den Osten oder Süden des Landes zu schicken. Offiziell darf die ISAF-Truppe nicht in Pakistan operieren. Dies aber ist eine Option, die sich die Amerikaner immer mehr vorstellen können. Wenn nicht zusammen mit NATO-Truppen, dann mit eigenen Soldaten.

Bereits jetzt operieren US-Einheiten in Pakistan – nicht offiziell, aber mit Duldung der pakistanischen Behörden. So war kürzlich in einem Report für den US-Kongress zu lesen: auf einer geheimen pakistanischen Basis seien offenbar drei amerikanische Predator Drohnen stationiert, die ohne ausdrückliche Erlaubnis der Regierung in Islamabad eingesetzt werden könnten.

Absehbar ist, dass die USA ihr Militärengagement in der Grenzregion und auch in Pakistan selbst erheblich verstärken werden. Diese Entwicklung hat Konsequenzen für die Bundeswehr-Mission am Hindukusch. Im Herbst wird der Bundestag eine Anhebung der gegenwärtigen Obergrenze von derzeit 3.500 auf 4.500 Soldaten beschließen. Doch dabei wird es nicht bleiben. Afghanistan – eine Rutschbahn. Auch für die Bundeswehr.


 

Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.