Neues Deutschland
28. April 2004


Kandidatenkür am Dnjepr
Verfassungsreform gescheitert – Kampf um Kutschma-Nachfolge hat begonnen

von Manfred Schünemann

Offiziell beginnt der Wahlkampf um die Nachfolge von Präsident Leonid Kutschma erst im Sommer. Noch sind nicht einmal alle Kandidaten benannt. Doch die Hauptopponenten üben sich bereits im Schlagabtausch.

Monatelang hatten die Parlamentsparteien in Kiew über eine Verfassungsreform debattiert. Bei der entscheidenden Abstimmung fehlten sechs Stimmen aus dem Regierungslager an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Selbst für die Opposition kam dieses Ergebnis überraschend, hatten die Regierungsparteien doch mühsam einen Kompromiss mit Kommunisten und Sozialisten ausgehandelt und sich deren Unterstützung gesichert.

Angestrebt waren weit reichende Verfassungsänderungen. Das Präsidialsystem, das dem Staatsoberhaupt und seiner Administration weitgehende Entscheidungsgewalt einräumt, sollte durch eine parlamentarisch-präsidiale Staatsordnung abgelöst werden. Außer in den Kernbereichen Außenpolitik, innere Sicherheit und Verteidigung hätte der Präsident nur noch repräsentative Funktionen ausgeübt. Die Befugnisse der bisher weitgehend außerhalb parlamentarischer Kontrolle tätigen Präsidialadministration sollten der Regierung übertragen werden und die Verantwortung für Regierungsbildung und -kontrolle läge ausschließlich beim Parlament. Zusammen mit den bereits beschlossenen Wahlrechtsänderungen (reines Verhältniswahlrecht mit einer Drei-Prozent-Klausel) hätte die Verfassungsreform zu einer Stärkung des demokratischen Systems geführt.

Natürlich waren diese Vorstellungen auch machtpolitisch begründet. Das Regierungslager erhoffte sich eine Sicherstellung seines politischen Einflusses auch für den Fall, dass Viktor Juschtschenko, der Kandidat der zentristischen, national-patriotischen Opposition, die Präsidentenwahl im Herbst gewinnt. Der neue Präsident hätte sich im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränken müssen, während die eigentliche politische Macht bei der Regierung und dem von der jetzigen Parlamentsmehrheit gewählten Ministerpräsidenten gelegen hätte.

Kommunisten und Sozialisten knüpften ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung an die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts, durch das sie sich mehr Parlamentsmandate und stärkeren Einfluss auf die Regierungspolitik versprachen.
Das von Juschtschenko angeführte Lager lehnt die Einschränkung der Allmacht des Präsident zwar nicht grundsätzlich ab, wollte darüber jedoch erst nach der Präsidentenwahl entscheiden. Auch das Regierungslager scheint sich mit der Verschiebung inzwischen abgefunden zu haben. Die rasche Nominierung des derzeitigen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Regierungsparteien spricht dafür, dass man nun alles auf dessen Sieg setzen will. Möglich ist sogar, dass die Verfassungsreform bis nach den nächsten Parlamentswahlen im Jahre 2006 hinausgezögert wird. Dann wird das neue Wahlgesetz zu einer neuen Kräfteverteilung in der Werchowna Rada führen.

Für Prognosen zum Ausgang der Präsidentenwahl ist es noch zu früh. Doch scheint Viktor Janukowitsch ein durchaus aussichtsreicher Kandidat zu sein. Als amtierender Ministerpräsident gilt er nicht nur den jetzigen Herrschaftseliten und -strukturen als sicherer Garant, sondern er steht auch für Kontinuität in der Wirtschaftspolitik – im letzten Jahr wuchsen das Bruttoinlandsprodukt um 9,3 und die Realeinkommen um 15,2 Prozent. Und für eine Fortsetzung der Politik des Ausgleichs zwischen EU-Orientierung und Zusammenarbeit mit Russland steht er auch. Mehr als Juschtschenko könnte Janukowitsch damit in einem wahrscheinlich notwendigen zweiten Wahlgang kommunistische Wähler für sich mobilisieren.

Viktor Juschtschenko und andere Oppositionspolitiker haben denn auch sofort auf den Amtsvorteil des Ministerpräsidenten hingewiesen und betont, dass er sowohl auf »gleichgeschaltete Medien« als auch auf den Verwaltungsapparat und »unkontrollierbare Finanzmittel« zurückgreifen könne. Dadurch sei eine demokratische Wählerentscheidung gefährdet. Unerwähnt ließen sie das eigene Unterstützungspotenzial.

Erst kürzlich traf sich der US-amerikanische Finanzier George Soros, der zuletzt die Wahlkampagnen der vormaligen Oppositionsparteien in Georgien unterstützt hatte, in Kiew auch mit Juschtschenko. Medienberichten zufolge kritisierte er, dass ein großer Teil der schon im Februar zur Verfügung gestellten Gelder (der Soros-Fonds in der Ukraine hat einen jährlichen Etat von etwa 5 bis 8 Millionen Dollar) nicht »zielgerichtet« genug für den Wahlkampf Juschtschenkos, sondern für wenig erfolgreiche Massenaktionen gegen die Regierungspolitik eingesetzt wurde. Den gleichen Quellen zufolge beabsichtigt Soros, monatlich 100000 Dollar für oppositionelle Journalisten bereitzustellen.

Schon jetzt erklären bestimmte Medien in der Ukraine (und nicht nur dort) die Wahl zwischen Juschtschenko und Janukowitsch zur »Schicksalsentscheidung« für oder gegen die Zukunft der Ukraine. Die Sachfragen der weiteren Entwicklung – Reform des politischen Systems, Weiterführung der wirtschaftlichen Reformprozesse, Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme, Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit – werden auf diese Weise in den Hintergrund gedrängt..


ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.