Friedenspolitischen Kurier
Juni 2001

 

Die Deutschen und die Bush-Revolution

Otfried Nasauer

 

Abwarten, Tee trinken und alle Optionen offen halten. Dies scheint die Leitlinie der deutschen Reaktionen auf die amerikanischen Pläne für ein Raketenabwehrprogramm zu sein. Hinter der abwartenden Haltung steckt ein einfaches Kalkül: Da sich abzeichne, daß die Administration des neuen amerikanischen Präsidenten Bush keinen schnellen, kurzfristigen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag plane, das Gesamtkonzept und die Optionen für die Raketenabwehr zunächst noch einmal auf den Prüfstand geschickt habe und die technische Machbarkeit weiterhin ungeklärt bleibe, bedürfe es auch keiner übereilten deutschen Positionierung. Zudem habe die neue amerikanische Regierung mit umfangreichen Konsultationen begonnen. Diese ermöglichen es, die deutschen Bedenken vorzutragen und sich über die Veränderungen zu informieren. Eine konkrete deutsche Stellungnahme – so die Annahme – habe Zeit bis die Details der neuen amerikanischen Planung öffentlich präsentiert und auf ihre Auswirkungen untersucht worden seien.

Ivo Daalder, ein kenntnisreicher Mitarbeiter der Brookings Institution in Washington sieht das ganz anders. Anläßlich eines Vortrages im Folketing, dem dänischen Parlament, sagte er kürzlich: "Ich denke, Europa ist gerade dabei einen großen Fehlern von jener Art zu machen, wie sie Europa manchmal macht." Europa gehe von zwei falschen Voraussetzungen aus: Der Annahme, die Regierung Bush werde sich bei der Raketenverteidigung Zeit lassen und der Annahme, die neue Administration werde kooperativ vorgehen. Die richtige Zeit für eine europäische Stellungnahme sei jetzt und nicht später, so Daalder. Europäisches Schweigen werde in Washington als Signal dafür verstanden, daß wenn Washington die Führung übernehme, die Alliierten schon folgen. Daalder riet, Europa solle auf höchster Ebene und koordiniert Stellung beziehen: "Wir in Europa haben wirklich fundamentale Interessen, wenn es darum geht, was mit dem ABM-Vertrag geschehen soll. Wenn Sie (in Amerika) denken, Sie könnten mit dem ABM-Vertrag dasselbe machen wie mit dem Kyoto-Protokoll, dann irren Sie."

Der Regierung Bush geht es um mehr als um Raketenabwehr und ABM-Vertrag. Sie führt derzeit eine radikale Überprüfung und Umorientierung der amerikanischen Sicherheitspolitik durch – die nach Anspruch und Umfang noch am ehesten mit jenen sicherheitspolitischen Neuorientierung verglichen werden kann, mit der Robert McNamara den in der NATO höchst umstrittenen Wandel von der Strategie der massiven Vergeltung hin zur Strategie der flexiblen Antwort vollzog.

Die Vereinigten Staaten definieren ihre nationalen Interessen neu, überprüfen die Bedeutung von Regionen und Ressourcen anhand ihrer neu definierten Interessen und fragen, welche militärischen Mittel und Strategien diesen am besten dienen. Dieser Prozeß verläuft von oben nach unten, top to bottom, wie die neue Administration es nennt und mit großer Geschwindigkeit. Heilige Kühe gibt es dabei kaum. Details, konkrete Schritte und Entscheidungen, stehen deshalb am Ende dieses Prozesses, nicht am Anfang. Die erste sicherheitspolitische Rede von George W. Bush am 1. Mai eröffnete die Debatte über die Grundelemente von Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. Die wichtigsten:

Bush hinterfragt das bislang gültige Konzept der nuklearen Abschreckung und bezeichnet es als nicht länger hinreichend. Die bisherige Abschreckung auf Basis gegenseitig gesicherter Vernichtung soll – zumindest im Umgang mit Staaten wie Nordkorea, Irak, Iran oder vielleicht auch China ergänzt werden durch eine Abschreckung, die nicht mehr vom Prinzip gegenseitig gesicherter Verwundbarkeit geprägt ist. Dazu soll ein Mix offensiver und defensiver Systeme dienen. Verbündeten und Freunden soll über regionale Raketenabwehrsysteme eine vergleichbare Option angeboten werden. Potentielle Gegner sollen wissen, daß sie die USA und deren Verbündete nicht abschrecken können. Der wichtigste Nebeneffekt ist damit eine Reduzierung der Selbstabschreckung für die Vereinigten Staaten, eine Flexibilisierung ihrer Abschreckungsoptionen und in der Folge glaubwürdigere Möglichkeiten, mit dem Einsatz atomarer Waffen drohen zu können. Solange Rußland es sich finanziell leisten kann, hat es die Rückversicherung klassischer Abschreckung. Andere Besitzern von Massenvernichtungswaffen dagegen sollen wissen: Die USA können sie nuklear abschrecken ohne selbst abgeschreckt zu werden. Das offensive Nuklearpotential der USA soll für Einsätze gegen solche Staaten nutzbarer gemacht werden und durch defensive Systeme, Raketenabwehr eben, ergänzt werden.

Ähnlich grundsätzlich geht die neue Administration an die künftige Bedeutung der vertraglich bindenden Rüstungskontrolle heran. Präsident Bush will sich von den Beschränkungen des ABM-Vertrages lösen – mit russischem Einverständnis, wenn möglich, einseitig, wenn nötig. Die angestrebte Befreiung von den Restriktionen des ABM-Vertrages soll so weit gehen, wie für das künftige, umfassendere Raketenabwehrsystem nötig. Sie soll aber auch jene Beschränkungen aufheben, die einer weitergehenden militärischen Nutzung des Weltraums im Wege stehen. Rüstungskontrolle, die die USA behindert, soll es künftig nicht mehr geben. Beschränkungen, die vorrangig andere behindern, schon.

Daß bedeutet nicht, daß nicht auch weiter abgerüstet werden kann. Die neue Administration ist bereit, schnell und notfalls auch einseitig weitere drastische nukleare Abrüstungsschritte einzuleiten. Das vorhandene Nuklearpotential ist viel zu groß und viel zu teuer und zu wenig flexibel, um wirklich einsetzbar zu sein. Die erneuten Einschnitte werden wahrscheinlich deutlich über die für START-2 und START-3 vorgesehenen Reduzierungen hinausgehen. Eintausend, höchstens zweitausend strategische atomare Sprengköpfe sollen künftig noch aktiv gehalten werden. Mit dem Angebot atomarer Abrüstung und einem großen Paket weiterer Maßnahmen kann man Rußland ein Einlenken im Streit um den ABM-Vertrag schmackhaft machen. Der altersbedingte, natürliche Zerfall großer Teile der russischen Nuklearstreitmacht macht das möglich. Schon am 16. Juni dürfte US-Präsident Bush seinem russischen Kollegen Putin bei ihrerer ersten Begegnung in Slowenien die Grundzüge eines solchen Vorschlags vorlegen. Einen Monat später, bei einem Treffen der G-8-Staaten in Italien könnten präzisere Vorstellungen folgen.

Je tiefer die Einschnitte jedoch ausfallen, desto unwahrscheinlicher ist es, daß sie in einem weiteren START-Vertrag rechtlich verbindlich gemacht werden. Dafür sind zwei Gründe wesentlich. Die Bush-Administration möchte zu einen, daß diese Abrüstungsmaßnahmen im Bedarfsfall einseitig auch teilweise rückgängig gemacht werden können. Zum anderen hat sie ein Interesse, die aus diesem Schritt resultierende Umstrukturierung ihrer Nuklearstreitkräfte dazu zu nutzen, ihr offensives Potential stärker auf "Risiko-Staaten" wie Korea, den Irak, den Iran oder auch China ausrichten zu können. Dabei sind manche vertragliche Regeln aus dem START-Prozeß hinderlich: Sie erschweren es zum Beispiel, strategische Raketen-U-Boote mit Trident-Raketen auszustatten, die nur einen, sehr zielgenauen, kleinen Sprengkopf tragen. Eine Waffe, mit deren Einsatz gegen Ziele – wie zum Beispiel die Bunker der politischen Führung in "Risikostaaten" - sich viel glaubhafter drohen ließe, als mit den Nuklearwaffen großer Sprengkraft, die heute das amerikanische Nuklearpotential prägen. Falls erforderlich sollen für solche Zwecke auch neue Atomwaffen entwickelt und angeschafft werden.

Von solch tiefgreifender, grundsätzlicher und langfristig angelegten Infragestellungen der traditionellen Abschreckungs-, Rüstungsontroll- und Strategiepolitik zeigen sich die europäischen Partner der USA eher überrascht. Als Emissäre der neuen Administration den neuen Ansatz in ersten Konsultationen erläuterten, vermißte Europa das Detail, die konkreten Vorschläge und wunderte sich darüber, daß Washington noch nicht viel weiter war. Aus dem Fehlen konkreter Vorschläge zu folgern, daß die Regierung in den USA sich mehr Zeit lasse, könnte sich als folgenschweres Mißverständnis erweisen. Sobald die neue Regierung am Potomac einschätzen kann, inwieweit ihre Bündnispartner und einige wenige wesentliche andere Staaten wie Rußland oder China bereit sind, sich auf diese Grundsatzfragen einzulassen oder daß keine wesentlichen Gegenargumente oder gar politische Gegenkonzepte existieren, kann sie Details und konkrete Vorschläge sehr schnell nachreichen.

Unbeachtet von der Öffentlichkeit hat die Bundesregierung ihre öffentlich vertretene Position der Skepsis gegenüber den sicherheitspolitischen und rüstungskontrollpolitischen Auswirkungen der amerikanischen Raketenabwehrpläne bereits mehrfach entscheidend geschwächt.

Bundeskanzler Schröder hat sich auf die von der Bush-Administration geforderte Grundsatzdebatte eingelassen. Gemeinsam mit Präsident Bush erklärte er 29. März: "Wir werden zusammen auf eine Strategie für die Ära nach dem Kalten Krieges hinarbeiten, die unsere gemeinsame Sicherheit erhöht, die angemessene Mischung offensiver und defensiver Systeme umfaßt, den Abbau von Nuklearwaffen fortsetzt und Kontrollen hinsichtlich der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Proliferation stärkt." Mehr noch: Im Bundestag forderte er eine deutsche Teilhabe an den Technologien, die sich aus der weiteren Arbeit an Raketenabwehrsystemen ergeben werden. Aus dieser Haltung kann künftig kaum mehr ein "Nein" zu den Plänen Washingtons abgeleitet werden. Diese Positionsänderung hat einen Hintergrund: Im Herbst letzten Jahres hat die NATO eine neue Luftverteidigungsdoktrin gebilligt hat. Mit ihr hat sich das Bündnis die Aufgabe gestellt, eine NATO-weit integriertes erweitertes Luftabwehrsystem zu erarbeiten. NATINEADS heißt das Vorhaben – es soll Flugkörper mit Reichweiten von bis zu 3.000 Kilometern bekämpfen können. Im Sommer will die NATO transatlantische Industriekonsortien beauftragen, Systemvorschläge zu erarbeiten. Die Bundeswehr hat das Vorhaben in ihr neues Luftverteidigungskonzept aufgenommen.

Europäisches Nachdenken über die Abwehr von Flugkörpern mit Reichweiten zwischen 1.000 und 3.000 Kilometern aber verändert die transatlantische Diskussionsgrundlage zum Thema Raketenabwehr. Flugkörper dieser Reichweite, abgeschossen im Mittleren Osten oder in Nordafrika, können Mittel- und Westeuropa erreichen. Europa läßt sich auf die Diskussion über die Notwendigkeit einer Heimatluftverteidigung gegen Mittelstreckenraketen ein. Das ist von neuer Qualität, denn bislang gab es eine europäische Beteiligung nur im Hinblick auf Systeme zur Abwehr taktischer Gefechtsfeldraketen, Patriot-PAC 3 und MEADS zum Beispiel, die allein dem Schutz von im Ausland stationierten Truppen dienen könnten. Beginnt die Bundesregierung aber erst einmal, selbst über eine Heimatluftverteidigung gegen Raketen nachzudenken, so kann sie die USA kaum auffordern, gleichartiges Nachdenken für das amerikanische Territorium aus übergeordneten rüstungskontrollpolitischen Gründen zu unterlassen. Fast schon freie Bahn also für das Bush-Konzept eines zweiten nuklearen Zeitalters, mit einer neuartigen Form der Abschreckung.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).