Blätter für deutsche und internationale Politik
Ausgabe 05/2010


Triade der Trippelschritte

von Otfried Nassauer

Als „nuklearen Monat“ bezeichnet bereits manch einer in Washington den April 2010.[1] Völlig falsch ist die Bezeichnung nicht. Denn nach dem langen Kampf um die Gesundheitsreform stand für US-Präsident Barack Obama die erste Hälfte des Aprils ganz im Zeichen des Atoms.

Unmittelbar nach Ostern legte der US-Präsident seine lange erwartete „Nuclear Posture Review 2010“ (NPR) vor,[2] die Blaupause seiner Nuklearpolitik für die kommenden Jahre. Nur zwei Tage später unterzeichnete er zusammen mit seinem russischen Kollegen Dmitrij Medwedjew das „Neue START-Abkommen“, in dem die beiden großen Nuklearmächte neue Obergrenzen für ihre Bestände an strategisch-nuklearen Waffen festlegten. Und gleich danach folgte der dritte Höhepunkt: Auf Einladung Obamas wurde in Washington ein „Nuklearer Sicherheitsgipfel“ abgehalten, an dem 47 Staats- und Regierungschefs teilnahmen und sich zu verbesserten Sicherheitsmaßnahmen für hochangereichertes Uran und abgetrenntes Plutonium verpflichteten.

Doch um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis des „nuklearen Monats“ ist lediglich eine Triade der Trippelschritte auf dem Weg zu Obamas großer Vision – der Welt ohne Atomwaffen.

Dabei kam die Häufung von Großereignissen zur Nuklearpolitik keineswegs von ungefähr. Am 3. Mai beginnt in New York die Überprüfungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), der in der Bundesrepublik besser als Atomwaffensperrvertrag bekannt ist. Die Vorgängerkonferenz scheiterte 2005 nicht zuletzt an den Positionen der Bush-Regierung; seither befindet sich das multilaterale nukleare Nichtverbreitungsregime in einer tiefen Krise.

Barack Obama hat sich dessen Wiederbelebung und Stärkung zum Ziel gesetzt. Bereits in seiner Prager Rede vom April 2009 kündigte er an, er werde „die Rolle nuklearer Waffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren und andere drängen, dasselbe zu tun“, „einen neuen START-Vertrag mit Russland verhandeln“, der die Begrenzung und Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen in beiden Ländern festschreibe, „die Ratifizierung des Teststoppvertrag (CTBT) durch die USA sofort und aggressiv verfolgen“ und den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag als Basis für Kooperation stärken. Dabei wurde der dem NVV zugrunde liegende „Deal“ bekräftigt: Die Nuklearmächte werden abrüsten, die nichtnuklearen Staaten sollen verschärfte Nichtverbreitungsregeln akzeptieren; zudem haben alle Mitglieder des Regimes das Recht zur zivilen Nutzung der Nukleartechnik. Außerdem erkannte Obama mit seiner Vision einer atomwaffenfreien Welt die völkerrechtliche Verpflichtung der Nuklearmächte zur vollständigen nuklearen Abrüstung aus Artikel VI des NVV erneut an.

Das Ziel, das Regime wieder zu beleben und zu stärken, wird auch in der neuen Nuclear Posture Review (NPR) herausgehoben, die die Nichtverbreitung „zum ersten Mal [...] an die Spitze der nuklearen Agenda der USA“ stellt. Die Begründung dafür lässt jedoch aufhorchen: „Die Bedrohung durch einen nuklearen Krieg ist in den Hintergrund getreten, aber das Risiko eines nuklearen Angriffs ist gewachsen. [...] Die dringlichste und extremste Gefahr ist der nukleare Terrorismus. [...] Die andere drängende Gefahr ist die nukleare Proliferation.“ Erst an dritter Stelle wird die Notwendigkeit erwähnt „die strategische Stabilität mit anderen Nuklearmächten – vor allem Russland und China zu wahren“.

Ob Nuklearterrorismus tatsächlich die größte Bedrohung darstellt, kann bezweifelt werden; möglicherweise erscheint sie Obama auch nur als die opportunste Begründung, um verschärfte Nichtverbreitungsregeln durchzusetzen. Der NPR nimmt explizit das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt auf und bemüht sich, die deklaratorische Nuklearpolitik der Regierung Obama deutlich von jener seines Vorgängers abzugrenzen. Die „fundamental role“ nuklearer Waffen sei es, „einen nuklearen Angriff auf die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken“. Ziel sei es, die Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, sodass die Abschreckung eines Nuklearangriffs die einzige Bedeutung („sole role“) nuklearer Waffen werde. Vorerst wird die Option eines Nuklearwaffeneinsatzes aber noch offen gehalten, um „unter extremen Umständen die vitalen Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“ Außerdem erfolgt eine Klarstellung der negativen Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen Mitglieder des NVV-Regimes: Die „Vereinigten Staaten werden Nuklearwaffen nicht gegen Staaten einsetzen oder mit deren Einsatz androhen, die nicht-nukleare Mitglieder des NVV sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen erfüllen.“ Die Garantie gilt explizit selbst dann, wenn einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte.

Mit der nuklearen Drohung Washingtons müssen künftig also nur noch jene Staaten rechnen, die selbst Nuklearwaffen besitzen, sowie Staaten, die ihre Verpflichtungen aus dem NVV nicht einhalten. Im Klartext: Nordkorea und der Iran. Unausgesprochen bleibt jedoch, wer darüber entscheidet, ob ein Staat seine Verpflichtungen aus dem NVV nicht einhält und ob eine solche Entscheidung nur auf Basis beweisbarer und öffentlich nachprüfbarer Fakten erfolgen kann.

Die Rolle nuklearer Waffen wird somit in der deklaratorischen Politik reduziert. Zu beachten ist allerdings folgendes: Erstens werden Jahre vergehen, bis diese Veränderungen in Zielplanungen, Operationsplänen und Eventualfallplanungen der US-Streitkräfte ihren Niederschlag finden. Bis dahin wird weiter nach den Vorschriften aus der Zeit George W. Bushs gearbeitet. Zweitens bleibt offen, wie weit und wie schnell die Streitkräfte den „politischen“ Vorgaben Obamas tatsächlich folgen. Sie könnten hoffen, dass ein künftiger republikanischer Präsident Obamas deklaratorische Politik erneut radikal ändert. Es gibt also keinerlei Umsetzungsgarantie.

Dass es berechtigten Anlass gibt, einen konservativen Rollback zu befürchten, verdeutlichen die Aussagen der NPR zur Zukunft der Nuklearstreitkräfte der USA. Diese sind eindeutig strukturkonservativ und erinnern an das Vorgehen „großer“ Bundeswehrreformer wie Rudolf Scharping und Franz Josef Jung: Die USA werden an der Triade ihrer nuklearen Trägersysteme festhalten und diese nur geringfügig verändern. Alle wesentlichen Modernisierungen der nuklearen Trägersysteme werden weitergeführt, ebenso die Planungen zur Entwicklung neuer Träger. Der NPR befürwortet die Fortführung der laufenden Modernisierung nuklearer Sprengköpfe und erlaubt den Einstieg in die umfassende Modernisierung der B-61-Bomben zur B-61-12 und Vorarbeiten für ein weiteres Modernisierungsprogramm. Auch der weitere Ausbau der Raketenabwehr und die Einführung konventioneller Langstreckensysteme in das Konzept des Prompt Global Strikes werden befürwortet. Mit diesen Vorhaben sollen, so die Argumentation, erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, Rolle und Zahl nuklearer Waffen auch künftig weiter verringern zu können.

Diese Entscheidungen im NPR stehen in einem deutlichen Kontrast zu den Äußerungen im deklaratorischen Teil. Offensichtlich war hier allein der Blick auf die Nuklearpotentiale der anderen Nuklearmächte maßgeblich, nicht aber die geänderte Prioritätensetzung Obamas. Diese Passagen signalisieren, dass die Vereinigten Staaten auch bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts über überlegene, moderne Nuklearstreitkräfte verfügen wollen; und sie vermitteln den Eindruck, als sei die Vision einer atomwaffenfreien Welt eine Vision allenfalls für das 22. Jahrhundert.

Der neue START-Vertrag zwischen den USA und Russland bestätigt diesen Eindruck. Er begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme (von denen 700 aktiv sein dürfen) und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe auf je 1550. Damit werde die Zahl der Trägersysteme im Vergleich zum ausgelaufenen START-Vertrag um mehr als die Hälfte reduziert und die Zahl der Sprengköpfe gar um 74 Prozent. (Im Vergleich zum Moskauer SORT-Vertrag von 2002 ergebe sich immerhin ein Minus von 30 Prozent.)

Das sieht wie eine substantielle neue Abrüstungsverpflichtung aus, erfordert faktisch aber nur sehr kleine Schritte. Das liegt zum einen daran, dass beide Seiten schon heute weit unter den alten START-Grenzen liegen, und zum anderen daran, dass veränderte Zählregeln bei den Langstreckenbombern zu künstlich kleingerechneten Zahlen für die Sprengköpfe geführt haben. So zählten Bomber mit Marschflugkörpern bislang als 10 Sprengköpfe, künftig jedoch nur als einer. Faktisch können sie jedoch bis zu 20 Waffen tragen. Im Ergebnis dürfen beide Parteien somit einige hundert Waffen mehr stationieren als die offiziell vereinbarten 1550. Wie START und SORT macht auch der neue Vertrag den Parteien zudem keine Vorschriften, wie viele nicht-stationierte Sprengköpfe sie in Reserve halten dürfen. Heute besitzen beide Seiten zusammen etwa 4800 aktiv stationierte Waffen, insgesamt aber noch rund 22?000 nukleare Sprengköpfe. Bei den Trägern müssen die USA zwar einige wenige Dutzend ausmustern, Russland dagegen dürfte sogar noch aufrüsten.

Kurzum: Auch wenn sich unter Obama die deklaratorische Politik der USA deutlich verändert hat, sieht man im Bereich des Faktischen bislang nur Trippelschritte. Dazu dürften innenpolitische Blockaden wesentlich beigetragen haben. Zum einen machte der Kongress Obama im Haushaltsgesetz 2010 enge Vorgaben, zum anderen braucht der Präsident für die Ratifizierung des START-Vertrages zumindest acht Stimmen der Republikaner im Senat, die bislang nicht gesichert sind. Mehr noch gilt dies für den Teststoppvertrag. Er soll deshalb erst nach START im Kongress beraten werden. Diese Hemmnisse haben auch Auswirkungen auf einen dritten Bereich, nämlich Obamas Bemühungen um eine multilaterale Stärkung des NVV-Regimes. Der Nukleare Sicherheitsgipfel, zu dem Obama nach Washington geladen hatte, verdeutlichte das. Sein wichtiges Ergebnis war, dass er überhaupt stattfand und es gelang, einen neuen internationalen Arbeitsprozess in Gang zu setzen, mit dem die Sicherheit nuklearer Materialien verbessert werden soll. Wirklich neue Initiativen oder verbindliche Verpflichtungen kamen jedoch nicht zustande.

Ein ähnliches Schicksal droht der kommenden und politisch deutlich wichtigeren Überprüfungskonferenz zum NVV. Zwar besteht kaum eine Gefahr, dass sie vollständig scheitert, aber sehr wohl das Risiko, dass wenig substantielle Ergebnisse erreicht werden – zum Schaden der globalen Sicherheit. Denn wenn der Kampf gegen die atomare Verbreitung etwas verlangt, dann dass aus Trippelschritten endlich echter Fortschritt wird.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS


Fussnoten:

[1] So etwa Marc Armbinder in seinem Blog „The Atlantic“ am 24.3.2010.
[2] Vgl. www.defense.gov/npr/.