Das Blättchen
06. Januar 2014


Totgesagte leben länger – Nukes for ever?

von Otfried Nassauer


Wie lange haben die US-Atomwaffen noch eine Zukunft in Deutschland? Das wäre eine gute Frage an den zuständigen Bundeswehrgeneral, den Luftwaffeninspekteur. Was würde er wohl antworten? Etwa dies: Für die nächsten 20-30 Jahre bleiben diese Waffen in Deutschland. Die NATO will sie behalten, damit sich Polen und das Baltikum an die atomare Abschreckung der USA angekoppelt fühlen. Die große Koalition hat signalisiert: Solange die NATO auf nukleare Abschreckung setzt, wird Deutschland in Nuklearfragen mitreden wollen. Deshalb muss die Bundesrepublik auch weiter bei der nuklearen Abschreckung mitmachen und geeignete Trägerflugzeuge bereitstellen. Vielleicht würde er sogar noch hinzufügen: Wir werden auch darüber nachdenken müssen, ob es klüger ist, die Nutzungsdauer unserer nuklearfähigen Tornado-Flugzeuge noch einmal zu verlängern oder gleich ein neues Flugzeug zu kaufen. Der Mann weiß, wie man die Interessen der Luftwaffe gut vertritt. Für die nukleare Teilhabe hält Luftwaffe mehr als die Hälfte ihrer Tornadoflotte vor.

Sie glauben, das könne nicht wahr sein? Noch vor einem Jahr seien doch vier der fünf Bundestagsfraktionen für einen schnellstmöglichen Abzug gewesen und selbst in der CDU/CSU habe man die Notwendigkeit dieser Waffen angezweifelt. Sie dachten, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Waffen abgezogen werden? Weit gefehlt: Der Wind hat sich vorerst gedreht. Die FDP musste den Bundestag verlassen. Grüne und Linke stellen eine Mini-Opposition. Die CDU/CSU wollte zur Zukunft nuklearer Waffen in Deutschland im Koalitionsvertrag am liebsten gar keine Aussage treffen. Und für die SPD war es ein nachrangiger Konfliktpunkt, an dem man die Koalitionsverhandlungen nicht scheitern lassen wollte. Koalitionen zwingen bekanntlich zu Kompromissen. Es geht ja nur um maximal 20 Waffen vom Typ B61. Hauptsache also, das Thema Nuklearwaffen wird im Abschnitt „Rüstungskontrolle und Abrüstung“ abgehandelt.

Dort steht es nun auch. Der Koalitionsvertrag hält fest: „Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.“ Eine Binsenweisheit, denn niemand ist daran interessiert, dass Deutschland sich aus der NATO-Diskussion über Nuklearwaffen verabschiedet. Das Problem dieser Feststellung besteht in der Schlussfolgerung, die daraus gerne gezogen wird. Sie lautet: Die nukleare Teilhabe muss solange aufrechterhalten werden, wie die NATO eine nukleare Allianz bleibt.

Die jüngsten strategischen Dokumente der NATO antworten auf die Frage, wie lange „solange“ bedeute, mit einem Satz, der ebenso selbstverständlich daherkommt: Die NATO bleibt eine nukleare Allianz, solange wie es Nuklearwaffen gibt. Auch das ist zunächst eine Binsenweisheit, sind doch drei Mitglieder Nuklearwaffenstaaten. Niemand wird erwarten, dass ausgerechnet Frankreich, Großbritannien und die USA die allerersten sein würden, die auf diese Waffen gänzlich verzichten. Problematisch wurde dieser Satz, weil er als Antwort auf die lebhafte Diskussion über einen potentiellen Abzug der US-Nuklearwaffen aus Europa geschrieben wurde und daraus vielfach ebenfalls eine Schlussfolgerung gezogen wurde: Weil die NATO eine nukleare Allianz bleibt, müssen auch künftig Nuklearwaffen in Europa stationiert bleiben.

Ähnlich dürfte die Tonlage lauten, mit der die Koalitionsvereinbarung künftig rezitiert werden wird. Das altbekannte – ebenso falsche wie breit geglaubte – Argument wird lauten: „Wir müssen mitmachen, um mitentscheiden zu können“. Richtig mitmachen kann Deutschland nur, wenn es auch weiterhin nuklearfähige Trägersysteme vorhält und die Stationierung nuklearer Waffen auf seinem Territorium erlaubt, also an den technischen Aspekten der nuklearen Teilhabe festhält.

Diese Lesart unterschlägt, dass es in der NATO selbstverständlich möglich ist, im nuklearen Bereich „an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben“, ohne dass sich ein Land an der technischen Umsetzung der nuklearen Teilhabe beteiligt. Kanada zum Beispiel beendete seine Mitwirkung vor rund 20 Jahren und wurde deshalb keineswegs zu einer Zone minderer Sicherheit oder gar aus den nuklearen Planungsprozessen der NATO ausgeschlossen. Zum deklarierten Selbstverständnis der NATO gehört es gerade, dass es keine Mitglieder und keine Sicherheit erster und zweiter Klasse geben soll.

Zum Thema Rüstungskontrolle heißt es im Koalitionsvertrag darüber hinaus: „Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass zwischen den USA und Russland Verhandlungen zur verifizierbaren, vollständigen Abrüstung im substrategischen Bereich beginnen, und entsprechende Schritte beider Partner engagiert unterstützen. Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen.“ Das könnte sich leicht als frommer Wunsch oder gar als unerfüllbare Vorbedingung erweisen. Ein neues nukleares Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland ist derzeit nicht in Sicht. Die Aussage im Koalitionsvertrag fällt allerdings hinter die Position der NATO zurück. Diese hat nie einen Bedingungszusammenhang zwischen erfolgreichen Abrüstungsgesprächen und der Möglichkeit eines künftigen Abzugs aus Europa postuliert.

Mehr noch: In den USA wird kein Zusammenhang zwischen der geplanten Modernisierung der Atombomben vom Typ B61 und den russisch-amerikanischen Abrüstungsbemühungen gesehen. Die zuständige Pentagon-Staatssekretärin, Madelyn R. Creedon, hat Ende Oktober vor dem Kongress ausgeführt: „Selbst wenn die NATO mit Russland ein Abkommen über eine wechselseitige Reduzierung der taktischen Nuklearwaffen aushandeln würde, würden wir das B61-12 Programm im Rahmen der derzeitigen Zeitplanung zu Ende bringen müssen.“

Vorrangig wird in den USA also die Modernisierung des Atomwaffen-Typs vorangetrieben, der auch in Deutschland lagert. Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts sollen die alten Waffen vom Typ B61 durch neue der Version B61-12 abgelöst werden – auch in Europa. Zu dieser Absicht sagt der Koalitionsvertrag genau so viel wie die CDU/CSU wollte: gar nichts.

Die für den Nuklearwaffenbau zuständige US-Behörde, die NNSA, hat dem Kongress 2013 ihre Planung für die kommenden 25 Jahre vorgelegt und darin deutlich gemacht, dass die Lebensdauerverlängerung genannte Modernisierung der B61 ihr wichtigstes, größtes und das entscheidende Projekt für die nächste Dekade ist. Der neue Bombentyp, die B61-12, könne nicht nur – wie bisher geplant – vier vorhandene Atombombentypen ablösen, sondern alle sechs heute noch existierenden atomaren Bomben: Die B-61 Versionen -3, -4, -7, -10 und –11 sowie die B83. Man argumentiert, Modernisierung mache künftige Abrüstungsschritte erst möglich.

Die B61-12 soll ein typisches Produkt des digitalen Zeitalters werden soll – eine digitale All-in-one-Bombe, mit der man all jene Ziele abdecken kann, für die bislang viele unterschiedliche Waffen mit viel höherer Sprengkraft benötigt wurden. Möglich wird dies, weil die bisherige dumme Eisenbombe zu einer Gleit- und Lenkwaffe gemacht werden soll, die weit zielgenauer ist und deshalb keine allzu große Sprengkraft mehr braucht. Das Zeitalter der Megatonnenwaffen endet. 50 Kilotonnen, die maximale Sprengkraft der kleinsten alten Version der B61 und damit etwa das Vierfache der Hiroshima-Bombe, seien künftig hinreichend. Vielleicht werde es auch etwas mehr, wenn nicht nur der sekundäre Nuklearsprengsatz der bisherigen B61-4 für die Modernisierung herangezogen werde, sondern auch der fast baugleiche Sekundärsprengsatz der B61-10 mit maximal 80 Kilotonnen Sprengkraft. Für die Deutschen käme dann ein alter Bekannter zurück. Die B61-10 entstand aus den Sprengköpfen der einst umstrittenen Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II.

Zur präzisen Lenkwaffe wird die B61-12, weil sie ein neues Heckleitwerk bekommt und damit nach dem Abwurf elektronische Steuerbefehle in Flugbewegungen umsetzen kann, die die Bombe viel genauer ins vorprogrammierte Ziel lenken, als dies mit einer freifallenden Bombe an einem Bremsfallschirm möglich wäre. Voraussetzung dafür, dass diese Fähigkeit umfassend genutzt werden kann, ist allerdings, dass auch das Trägerflugzeug digitalisiert ist. Dies ist bei älteren Flugzeugen wie der F-16 oder dem deutschen Tornado nicht der Fall. Damit auch sie die neue Bombe nutzen können, kann diese – wenn auch nicht ganz so präzise – auch als analoge Gleitbombe eingesetzt werden. Selbst dann wird sie noch deutlich zielgenauer sein als die bisher in Europa lagernden Waffen. Die kleinere Sprengkraft erlaubt zudem das fast schon zynisch anmutende Argument, dass die neue Generation nuklearer Bomben weniger Kollateralschäden verursachen wird als ihre Vorgänger, Deshalb sei sie ein Beleg dafür, dass man die Vorgaben des humanitären Völkerrechts auch bei der Konstruktion von Atomwaffen berücksichtige.

Für die NNSA ist die B61-12 zudem ein erster Schritt auf dem Weg zu einer neuen Struktur des Nuklearwaffenpotentials der USA für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts. Sie nennt das ihre „Drei plus Zwei-Strategie“. Als Lebensdauerverlängerung bezeichnete Modernisierungen nuklearer Waffen sollen es ermöglichen, dass künftig die Sprengköpfe oder zumindest deren wesentliche Komponenten untereinander austauschbar werden. Nur noch drei verschiedene Sprengkopftypen für ballistische Raketen und zwei möglichst ähnliche für Bomben und Marschflugkörper – so soll sich das US-Arsenal am Ende zusammensetzen. Wenn zudem wesentliche Komponenten wie der primäre oder der sekundäre nukleare Sprengsatz sowie wichtige konventionelle Bauteile zu mehreren Waffen passen würden, dann könne man das Atomwaffenpotential deutlich weiter reduzieren. Heute seien weit mehr als die Hälfte aller Atomwaffen der USA Reservesprengköpfe, die vor allem noch für den Fall gelagert würden, dass bei einem aktiven Sprengkopftyp Probleme auftauchen, die einen Austausch erzwingen. Künftig müsse man nur noch Komponenten bevorraten, so werde der größte Teil der Reservesprengköpfe verzichtbar.

Als Barack Obama im April 2009 in Prag die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt wiederbelebte, weckte er weltweit große Hoffnung. „Als Nuklearmacht, als die einzige Nuklearmacht, die Nuklearwaffen eingesetzt hat, haben die Vereinigten Staaten die moralische Verpflichtung zu handeln. […] Deshalb erkläre ich heute klar und aus Überzeugung Amerikas Verpflichtung, den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Nuklearwaffen zu suchen. Ich bin nicht naiv. Dieses Ziel wird nicht schnell erreicht werden – vielleicht nicht zu meinen Lebzeiten. Es wird Geduld und Beharrlichkeit brauchen. Aber wir müssen jetzt auch jene Stimmen ignorieren, die uns sagen, dass sich die Welt nicht ändern wird. Wir müssen darauf bestehen: Ja, wir können es.” Überhört und überlesen wurde damals meist ein anderer Satz seiner Rede: „Begehen Sie keinen Irrtum. Solange wie diese Waffen existieren, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres, gut gesichertes und effektives nukleares Arsenal aufrechterhalten, um jeden Gegner abzuschrecken und unseren Alliierten diese Verteidigung zu garantieren – einschließlich der Tschechischen Republik.“

In der Welt der politischen Praxis, der Taten, hat die zweite Ankündigung Obamas bislang die weitaus größere Wirkung hinterlassen. Und so wie es derzeit aussieht, wird das vorläufig auch so bleiben.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS